Ich bin in einem Alter, für das es viele neue Ratgeber mit Stichworten wie „Lebensmitte, Loslassen, Wachstum in der Krise “ gibt. Wie das so meine Art ist, lese ich mich folgsam in die neue Lebensphase hinein und es gibt ja durchaus auch vernünftige Hilfestellungen im Wirrwarr des Ratgeberdschungels. Neben manch ernüchternden Erkenntnissen, die wohl an der Zeit waren, wird mir eine immer klarer: Ich bin überm Berg! Mein Hormonstatus geht den Bach runter, meine Leistungskurve hat ihren Gipfel überschritten und ehe ich mich versehe, beginnt mit dem Erreichen der Lebensmitte für mich eine Talfahrt, die sich ungefähr so rasant anfühlt wie eine Schlittenfahrt in Kindertagen.
Die Zeit der großen Aufbrüche ist vorbei. Viele Weichen längst gestellt. Ich habe nicht einmal mehr subjektiv betrachtet alle Zeit der Welt. Es geht nicht mehr ständig darum, Neues zu lernen, Berge zu versetzen, für unmündige, hilflose, sich selbst suchende, erwachsen werden wollende Angehörige ersten Grades mitzudenken und zu entscheiden. Das scheint so sein zu dürfen. Loslassen bringt mit sich, dass tatsächlich auch Belastungen abnehmen, Pflichten weniger werden und mit dem letzten Kind, das das Haus verlässt, stelle ich erstaunt fest, dass ich nie mehr morgens um 6.13 Uhr aufstehen muss, um ihm Frühstück zu richten, dass ich nie mehr mit einem Kind Englisch, Deutsch, Mathe und Co lernen muss, keine Schulmaterialien mehr kaufen, keine Elternabende mehr absitzen… Aber kaum ist diese Etappe geschafft, werden unsere Eltern hinfälliger und ich finde mich in unbekanntem Terrain wieder. Die Rollen ändern sich. Meine Kinder brauchen mich weniger, meine Eltern mehr. Statt mich an sie anlehnen zu können wie gewohnt, werden sie anlehnungsbedürftig. Erst habe ich meine Kinder ins Leben hinein-, dann meine Eltern heraus begleitet. Altvertraute Sicherheitsnetze bekommen Risse und am Horizont tauchen neue Gefahren auf. Auch meine Gesundheit wird zerbrechlicher.
Viele Lebensprojekte sind abgeschlossen, neue noch nicht in Sicht. Aber Kraft ist noch da und auch Lust, und die innerliche Erlaubnis, das Leben nun langsamer anzugehen. Nicht mehr mit voller Kraft voraus, aber noch einmal mit halber Kraft weiter, gerne, ja.
Hin und wieder die Erkenntnis, dass manch großes Glück sich nicht wiederholen lässt. Ich werde nie mehr gebären, stillen, erziehen und ein Teil von mir ist auch heilfroh darüber, aber ich bin nun auch ausgeschlossen von diesem Wunder der Schöpfung. Es sei denn meine Kinder fangen an sich zu vermehren. Wie sich das anfühlt, weiß ich noch nicht. Vielleicht wäre dieses „halbe Glück“ sogar auf neue Art wunderbar… Ich nehme Abschied von meiner Mutter und erlebe, was es heißt, sich erst im Himmel wieder sehen zu dürfen – Heimweh... Überhaupt gewinnt der Himmel an Bedeutung in dem Maß, wie liebe Menschen dorthin übersiedeln und mir dadurch meine eigene Wahlheimat dort bewusster wird. Immer weniger als abstrakter Ort, von dem ich wenig weiß, immer mehr wie ein verheißungsvolles Urlaubsziel.
Meine Erwartungen an das Leben haben sich teilweise erfüllt, teilweise relativiert und an der Realität neu ausgerichtet. Dafür erhöhen sich meine Erwartungen an den Himmel gleichzeitig. Und das nicht auf eine lebensfremde Art, sondern irgendwie konkret und wirklichkeitsnah. Manches von dem, was ich mir erträumte, ist nicht eingetroffen und ich merke, dass Zeit und Kraft knapp werden, um es noch zu erreichen. Gleichzeitig bin ich sehr dankbar für das, was war und über mich hinausleben wird, weil mein Leben Spuren hinterlässt, in meinen Kindern, in anderen Menschen, in dem was ich tue und sage. Ungetrübtes quietsch rosarotes Glück von Wolke sieben habe ich in der Ehe nicht gefunden, dafür etwas weitaus Schöneres, womit ich nicht gerechnet hatte, weil ich keine Ahnung hatte, was Langstreckenliebe bewirkt. Meinen Traumberuf als Bibliothekarin habe ich nur ein halbes Jahr lang ausgeübt, dafür bin ich im Dunstkreis der Bücher an Gottes Hand in neue Felder gekommen, die heute besser zu mir passen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich so gerne esse, koche ich bedauernswert wenig leidenschaftlich und reichlich planlos. Aber satt sind wir allemal immer geworden und so manches Mal ging auch bei uns die Liebe durch den Magen.
Lange Zeit habe ich versucht, schöner zu werden. Oft und immer öfter stelle ich im Spiegel überrascht fest, dass es nun darum geht, vorhandene Ressourcen zu schonen und ins rechte Licht zu rücken. Hatte ich zu Beginn meines Glaubenslebens noch die Hoffnung, kontinuierlich vor mich hin zu reifen parallel zu den gelebten Jahren und gelesenen Bibelversen, erkenne ich nun ernüchtert, dass mein jetziger Reifezustand womöglich bereits das Ende der Fahnenstange sein könnte. Das hindert nicht am Weitergehen und Hoffen, bremst aber die Euphorie. Was sich nicht einmal verkehrt anfühlt. Irgendwie entspannter. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass sich mit dem Verdauen und Reifen so etwas wie Gelassenheit einstellt. Es müssen nicht mehr alle Fragen beantwortet sein, ich habe es begriffen, dass das gar nicht Gottes Absicht ist. Ich erwarte nicht mehr, dass mein Glaube stabiler wird, ich habe verstanden, dass es Gott vor allem um Vertrauen geht. Und habe ich nicht oft erlebt, dass Gott treu ist trotz all der Fragen, Zweifel und Nöte? Dass er mich tatsächlich lieb hat. Dass er sich wirklich finden lässt, immer wieder. Dass Geschwister von mir den Weg mit ihm bis zum Ende gehen und über den Horizont hinaus, ohne seine Hand loszulassen. Das sollte genügen.
All das lehrt mich den Mut zur Halbheit. Ganzheit ist ein Ideal. Mein Leben ist ein Fragment, Teil eines Ganzen. Die Begrenztheit meines Lebens bringt quasi zwangsläufig das Naturgesetz der Halbheit hervor. Ich werde manche Erfolge und Früchte ernten, aber nicht automatisch, ohne Garantie und unkalkulierbar. Das macht bescheiden und dankbar für das, was gelingt im Kleinen. Ich lerne die Bruchstücke und Puzzleteile meiner Laufbahn schätzen.
Das Eingeständnis, dass mein Leben ein Fragment ist und bleibt, befreit mich vom Druck des Perfektionismus. Ich muss nicht lebenslang am Gelingen basteln, ich brauche nichts vorzuweisen, nachzuweisen. Gott wird mein Leben zu seiner Zeit mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten vollenden. Statt weiterhin irritiert zu sein über die Banalität des Lebens und meine eigene Unvermögen, Dummheit, Laster, spärliche Anfänge, versandende Vorsätze, Gebrochenheit und Scheitern kann mich das frei machen von der Last der Machbarkeit, dem Diktat des Erfolgs hin zu einem entspannteren Leben, eingebettet in Gottes große Ganzheit, an der ich teilhaben darf als genau richtiges Teilchen …
Seit ich im Chemieunterricht vom Elementarteilchen gehört habe, benutze ich dieses schöne Wort, um Schreibstifte auf ihre Fließeigenschaften zu testen. Vielleicht war das ja eine jahrzehntelange Vorbereitungsübung darauf, dass ich in Gottes Augen ein elementares Teilchen seines Kosmos bin …
Gottes Erbarmen mit mir entlastet mich zu Barmherzigkeit mit mir selbst. Ich muss keinen Idealen genügen, mich nicht an gesellschaftlichen Standards messen. Ich darf fröhlich mittelmäßig leben! Nach so vielen Jahren des Investierens, Aufbauens, Lernens entpuppt sich „Loslassen“ als Zugewinn an Lebensqualität! Ich bin - genug. Ich habe – genug. Ich genüge. Ich hänge über die Tür meines (ureigenen) Zimmers, das ich durch den Auszug meiner Kinder gewonnen habe, ein Schild: „Unfolkomen aber gelibt!“
Der Theologe Fulbert Steffensky bemerkt in seiner kleinen Schrift Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger: „Aus solchen Totalitätserwartungen an das Leben wächst ein merkwürdiges neues Leiden, das durch überhöhte Erwartung an das Leben und der Menschen an sich selber entsteht. Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe ungetrübt glücklich sein. Der Partner der beste Liebhaber und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen... So ist das Leben meist nicht. Die meisten Ehen gelingen nur halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater/Mutter, eine halb gute Lehrerin... Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben.
Wenn man zur Endlichkeit fähig wäre, dann würde das beschädigte Leben, das eigene und das von anderen, nicht so maßlos irritieren.
Einmal werden wir Gott sehen, wie er ist. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen. 1 Korinther 13,12
Betrete den Friedensort in dir, wo du sein darfst mit Licht und Schatten, gesegnet vor allem Tun.
Pierre Stutz in „Friedensworte“, Lesezeichenkalender 2009 Kath. Bibelwerk