Fromme Hausfrau - Artikel von Bianka - Family - Biankas Beiträge in der Zeitschrift family - Das haben meine Eltern gut gemacht 



Ich glaube an dich und stehe zu dir, ganz egal, was du tust – weil du mein Kind bist. Ich kann nicht anders. Ich liebe dich. 

Jahrelang hatte ich es immer wieder ausgeliehen, kaum dass ich es am Ende der Leihfrist zurück gegeben hatte: Mein Lieblingsbuch aus der Schulbücherei „Der Junge mit den Goldhosen“. Ich las es immer wieder. Es handelte von einem Jungen, der immer Goldstücke aus der Hosentasche zog, wenn er hinein griff. Das Märchen von Reichtum ohne Leistung... Ich liebte dieses Buch. Ich wollte es haben. Irgendwann beschloss ich, es mir anzueignen. Ich gab es nicht mehr zurück. Dass es käuflich erwerbbar sein und ich es mir zum Geburtstag wünschen könnte, dieser Gedanke war weit jenseits meiner zwölfjährigen Vorstellungskraft. Ebenso wie jener, dass es deutsche Verwaltungssysteme gab wie Karteikarten, durch die man zuverlässig auffällt, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Ich fühlte mich im Recht. Die Welt war mir dieses Buch schuldig. Alles war so, wie ich mir das vorstellte. 

Bis zu dem Tag, als mich der zuständige Lehrer der Bibliothek ansprach. Mahnung nennt man das Wort, das mir bis dahin fremd war. Er ermahnte mich, das Buch zurück zu geben, das ich nach seinen Informationen noch haben musste. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war mir ein Rätsel, warum er das zu wissen glaubte. Vielleicht bluffte er. Sicher war eine Lücke im System. In dieser Sekunde entschloss ich mich, mein Ding durchzuziehen. Ich hatte sowieso keine Wahl. Längst hatte ich zum Zeichen des Eigentümerwechsels die Bibliothekssignatur vom Buchrücken entfernt, eine Handlung, die nicht mehr rückgängig zu machen war. 

Die Wahrheit zu gestehen wäre ein unendlich peinlicher Akt. Unvorstellbar die Schande, die auf mich fallen würde, wenn ich das beschädigte Buch zurück brächte. Mir fiel nichts Fantasievolleres ein als zu sagen: „Ich habe das Buch längst zurück gegeben.“ Nun hatte er das Problem. Sollte er doch erst einmal nachweisen, dass ich das Buch hatte. Tja, offensichtlich hatten sie ein Buch verschlampt. Doch er gab den Ball zurück und bestand überaus penetrant darauf, dass es noch in meinem Besitz sei. Er konnte es beweisen. 

Aufgewühlt ging ich nach Hause, völlig ratlos, wie ich aus der selbst gemachten Falle wieder herauskommen sollte. Die folgende Woche war eine der schwereren in meinem langen Kinderleben. Das Buch war mir zur Last geworden. Nicht genug, dass ich jede Freude daran verloren hatte, nun musste ich auch noch einen sicheren Platz suchen, wo die Polizei das Beweisstück nie finden würde. Ich weihte keinen Menschen in mein Dilemma ein. Als meine Not ihren Höhepunkt erreicht hatte, war wieder Bibliothekstag.  

Mit zitternden Knien kehrte ich zurück zum Tatort. Ich wollte mich nicht durch Fernbleiben verdächtiger machen, als ich bereits war. In einem hinteren Winkel meines verzagten Herzens keimte eine kleine Hoffnung, dass die Sache vergessen war. Die Verbrecherin in mir hoffte auf Freispruch. Aber als ich den Lehrer sah, wusste ich sofort, dass es keine Gnade geben würde. Zielstrebig sprach er den wunden Punkt an. Er wollte dieses blöde Buch haben. Wie konnte man nur so an einem alten Buch hängen! Auf die Idee, vorzutäuschen, das Buch verloren zu haben, kam ich nicht. Raffiniert war ich wirklich nicht. Ich hatte mir keinem Plan B zurecht gelegt. Der Kläger konfrontierte mich, ich leugnete. Ich bestand darauf, das Buch zurück gegeben zu haben.

Irgendwann kam er zu der Überzeugung, ich hätte meine Chance gehabt. Es wurde ungemütlich. Mehr noch. Ich bekam Angst. Ich verstand, dass er mir niemals glauben würde. Ich fühlte mich unterlegen und verloren. Meine Ehre stand auf dem Spiel. Dass er mir nicht glaubte, war so vernichtend, dass ich vergaß, dass er im Recht war. Er bestand darauf, dass ich das Buch bringen solle, sonst müsste ich es ersetzen. Ich hatte keine Ahnung, was dieses für mich so wertvolle Buch kosten würde und wo ich es herbekommen konnte. Es gab keine Buchhandlung am Ort. Ich war am Ende meiner Möglichkeiten, ich konnte mir nicht mehr selbst helfen. 

An diesem Punkt kam meine Mutter ins Spiel. Als ich mich verloren glaubte, fiel sie mir ein. Sie war mein Anker in der Not. Instinktiv wusste ich, dass sie mir helfen würde. Jetzt war mir egal, wie viel Dreck ich am Stecken hatte, nun rannte ich heim, warf mich heulend an ihren Hals und erzählte ihr – nicht die wahre Geschichte.  

Ich schilderte ihr meine Version so überzeugt, dass ich allmählich selbst daran zu glauben begann: Ich war Opfer einer Sabotage. Völlig zu Unrecht bezichtigte man mich des gemeinen Diebstahls. Ich war unschuldig, aber niemand glaubte mir. Ich hatte das Buch rechtmäßig zurück gegeben, und nun sollte ich es ersetzen. 

Was dann geschah, erschreckte mich zutiefst. Meine Mutter sprang wutentbrannt auf, zerrte mich aus dem Haus und lief so schnell, dass ich kaum mithalten konnte, zur Schulbibliothek. Sie hielt mich fest an der Hand. Ich hatte keine Wahl. Ich musste wieder dort hin. Ich hatte gehofft, dass mit ihrem mütterlichen Zauber die Ungereimtheiten ohne mich aus der Welt schaffen würde. Aber ich sollte hören, was sie zu sagen hatte.  

Und so hörte ich den Satz, der mir bis heute im Ohr klingt: Mit einem Nachdruck, den ich selten an ihr erlebt hatte – zumindest sagt das meine Erinnerung - stellte sie klar: „Das ist meine Tochter! Meine Tochter lügt nicht! Wenn sie sagt, sie hat das Buch abgegeben, dann HAT sie das Buch abgegeben!“ Damit war der Fall erledigt. Ich kann mich nicht erinnern, je noch einmal darauf angesprochen worden zu sein. Meine Mutter hatte ihre Glaubwürdigkeit wie einen Mantel über mich gebreitet. Sie hatte ihr Wort für mich gegeben.

Das war der Tag, an dem ich aufhörte, meine Mutter anzulügen. 

An den Heimweg kann ich mich nur noch vage erinnern. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter immer wieder aufgebracht sagte: „Wenn es sein muss, kämpfe ich für meine Kinder wie eine Löwenmutter!“

Einerseits war der Fall tatsächlich erledigt. Sie hatte mich aus der Misere gerettet, meine Würde wieder hergestellt. Nach außen hin war ich rehabilitiert. 

In mir drinnen aber hatten ihre Worte tiefen Eindruck hinterlassen. Ihr Vertrauen, dessen ich nicht würdig war, machte mir zu schaffen. Dass ich sie angelogen hatte, machte mir zu schaffen. Dass sie an mich glaubte, dass sie mir grundsätzlich Gutes unterstellte, ging mir nicht mehr aus dem Herz. Ihr Glaube an mich war wie glühende Kohlen auf meinem Haupt.

Noch nie im Leben hatte ich mich so geschämt. Noch nie war mir meine Schuld so bewusst geworden. Das Verhalten meiner Mutter wurde für mich zu einem Wendepunkt.  

Als ich viele Jahre später zum Glauben an Gott fand, entdeckte ich bewegende Parallelen zu dieser Geschichte, die mir erneut half, etwas ganz Grundlegendes zu verstehen:

Lange verrenne ich mich in meinen Sünden, tief muss ich oft fallen, bis ich auf die Idee komme, zu Gott zu rennen.

Schnell neige ich auch heute noch dazu, meine Schwächen zu verstecken und eine reine Weste vorzutäuschen.

Unbegreiflich bleibt die Erkenntnis, dass Gottes Gnade sich nie erschöpft. Dass da Einer ist, der größer ist als ich, dessen Liebe ich nie verlieren kann, der zu mir hält wenn ich falle und mich wieder aufrichtet und mir meine Würde zurückgibt. Solidarität bis zum Abwinken. 

Vielleicht macht es gerade diese Erfahrung leicht für mich, daran zu glauben, dass Gott mich liebt trotz unreiner Weste. Vielleicht war sie der Anfang eines lebenslangen Lernprozesses, dazu zu stehen, wenn ich Mist gebaut habe, die Achtung vor mir selbst nicht zu verlieren, wenn ich mal wieder gefallen bin. Gott ist Liebe - er kann nicht anders – er liebt mich.  

Ich mag die Lieder von Reinhard Mey. Viele Texte spiegeln meine eigenen Gefühle und Erlebnisse . Das sollte mich eigentlich längst nicht mehr überraschen, aber als ich zum ersten Mal „Zeugnistag“ hörte, war ich fassungslos. Bis heute kann ich dieses Lied nicht hören, ohne zu weinen. Ähnliches Thema, nur ist es diesmal ein kleiner Junge, der versucht, sein Fehlverhalten zu vertuschen. Mit einem kleinen Unterschied: Seine Eltern durchschauen ihn UND halten zu ihm. Ich weiß nicht, wie meine Mutter reagiert hätte, wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte. Vielleicht hat sie mich auch durchschaut? Aber ich werde nie dieses Gefühl vergessen, als sie kompromisslos und ohne zu zögern zu mir hielt. Bis zum heutigen Tag  ist es jederzeit abrufbar, wenn ich erlebe, dass ein Kind Beistand braucht – nur dass ich diesmal auf  der anderen Seite stehe. Ich habe meinen Kindern von Muttermilch an eingeflößt, dass wir Eltern zu ihnen halten, egal was geschieht. Dass keine Schuld zu groß sein kann, als dass wir nicht zu ihnen stehen. Gleichzeitig war mir wichtig, ihnen vertrauenswürdig zu vermitteln, dass sie in einer vergleichbaren Situation in der Lage sein können, die Wahrheit zu wählen. 

Zeugnistag 

Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein,
Und wieder einmal war es Zeugnistag.
Nur diesmal, dacht’ ich, bricht das Schulhaus samt Dachgestühl ein,
Als meines weiß und hässlich vor mir lag.
Dabei war’n meine Hoffnungen keineswegs hochgeschraubt,
Ich war ein fauler Hund und obendrein
Höchst eigenwillig, doch trotzdem hätte ich nie gedacht,
So ein totaler Versager zu sein. 

So, jetzt ist es passiert, dacht’ ich mir, jetzt ist alles aus,
Nicht einmal eine 4 in Religion.
Oh Mann, mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus,
Sondern allenfalls zur Fremdenlegion.
Ich zeigt’ es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sie,
Schön bunt, sah nicht schecht aus, ohne zu prahl’n!
Ich war vielleicht ‚ne Niete in Deutsch und Biologie,
Dafür konnt’ ich schon immer ganz gut mal’n! 

Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen raus,
Die Fälschung war wohl doch nicht so geschickt.
Der Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse raus,
So stand ich da, allein, stumm und geknickt.
Dann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurück,
Voll Selbstgerechtigkeit genoss er schon
Die Maulschellen für den Betrüger, das missrat’ne Stück,
Diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn. 

Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
Und sagte ruhig: „Was mich anbetrifft,
So gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran,
Das ist tatsächlich meine Unterschrift.“
Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug,
Gekritzelt zwar, doch müsse man versteh’n,
Dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug.
Dann sagte sie: „Komm, Junge, Lass’ uns geh’n.“ 

Ich hab noch manches lange Jahr auf Schulbänken verlor’n
Und lernte widerspruchslos vor mich hin
Namen, Tagbellen, Theorien von hinten und von vorn,
Dass ich dabei nicht ganz verblödet bin!
Nur eine Lektion hat sich in den Jahr’n herausgesiebt,
Die eine nur aus dem Haufen Ballast:
Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt,
Ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!

Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern mich
Da rausholten, und wo bleibt die Moral?
Die Schlauen diskutieren, die Besserwisser streiten sich ,
Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal.
Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt,
Und nicht zuletzt natürlich dir, meine Kind,
Wenn’s brenzlig wird, wenn’s schief geht, wenn die Welt zusammenfällt,
Eltern, die aus diesem Holze sind,
Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind!

Reinhard Mey

Übringes: Als ich groß war, wurde ich Bibliothekarin ...