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Immer wieder wundere ich mich über das Phänomen, wie scheinbar unverändert mein Alltag daherkommt, so unspektakulär, normal und schlicht, dass ich selten das Bedürfnis verspüre, Szenen daraus für die Ewigkeit festzuhalten - zum Beispiel per Film. Es scheint ja alles ewiggleich zu sein, wie gestern und morgen. Und wie dieses alltägliche Dahinplätschern der Zeit in seiner gefühlten Gleichförmigkeit meinem Leben einen beständigen Rahmen zu geben scheint. Aber wie doch gerade in dieser Illusion von Unendlichkeit die großen Veränderungen um mich und in mir geschehen - in all den kleinen Momenten, die scheinbar so unwandelbar daher kommen.
Jeden Tag nehme ich von Gott eine unwiederbringliche Zeiteinheit entgegen, gehe ich einen Schritt auf die unvorstellbare Ewigkeit zu. Große Herausforderung an meinen Realismus. Hoffnung inmitten all der Vergänglichkeit…
Meine Mutter hat unsere alten Super 8 Filme auf Video überspielen lassen. Ich habe sie seit meiner Kindheit nie mehr sehen können, weil es kein Abspielgerät mehr gab. Neulich abends habe ich sie ganz allein angesehen. Uralte Szenen. In schlechter Qualität. Unchronologisch geschnitten. Bianka in klein in stumm in schwarzweiß, abwechselnd zwischen 9 und 14.
Ganz still bin ich mehrere Stunden in eine Decke gehüllt auf unserem Sofa gesessen und bin in meinem Herzen auf Zeitreise gegangen. Das Haus, das meine Eltern mit den ersten gesparten 1000 Mark angefangen hatten zu bauen, voll Vertrauen in ihre Kraft und Ausdauer, voller Hoffnung, ihren Kindern ein Zuhause bieten zu können in der Nachkriegszeit. Im Hof der graue VW Käfer, neben dem meine Eltern auf Hockern sitzen. Kinder, die mit dem Roller rumfahren, schaukeln, sandeln, plantschen. Mehr braucht es ja nicht für eine glückliche Kindheit. Wie alt ich heute bin! Wie lange das her ist! Bezeichnenderweise in einem vergangenen Jahrtausend. Hätte damals einer geahnt, wie meine Geschichte weiter gehen würde? Dass ich Bibliothekarin werden, 500 Meter weg von meinen Eltern in ein altes Haus ziehen, drei Kinder haben würde, einen behinderten Jungen?
Mein Bruder, heute ein Riese, immer kleiner als ich, oft an meiner Hand, so selbstverständlich. Meine Mutter fand ihn immer drollig. Ich kann es jetzt auch sehen. Er war drollig! Ich so jung. Meine Mutter viel jünger als ich heute. Meine Kinder heute älter als ich selbst damals. Ich komme ganz durcheinander wegen dieses unglaublichen Zeitsprungs der durch diese Technik möglich ist. Ich sehe mich immer wieder als fröhliches, unbeschwertes Mädchen. Im Garten war immer Wasser in irgendeiner Form verschiedener Becken, die mein Vater gebaut hatte. Es war ziemlich viel Verwandtschaft um mich herum, immer meine Oma, die Tür an Tür mit mir lebte. Nach der wir unsere erste Tochter genannt haben. Es war alles mehr als schlicht. Sehr sauber. Eine Mutter, die immer da war. Ein Vater zum Anfassen. Ich war seine Prinzessin, er liebte mich sichtbar, der Riss kam erst in der Pubertät in unsere Beziehung. Auch das ist lange her. Heute bewerte ich meine Kindheit anders als nach meinem Auszug. Wie viel Gutes ist mir zuteil geworden, wie viel Schmerzliches erspart geblieben. Erst heute kann ich die Relationen richtig sehen. Ich bin sehr dankbar, als ich diese Bilder sehe. Über die innere Versöhnung mit meinen Eltern, ohne dass wir je wirklich darüber gesprochen haben, was schief gelaufen ist. Über die Versöhnung mit dem Mädchen in mir.
Tage später noch beschäftigen mich die Bilder meiner Kindheitstage. Mir fällt ein, dass auch ich einmal gefilmt habe. Mit einer alten geschenkten Kamera. Ich habe das Teil hin und wieder benutzt, bin aber nie wirklich mit der Technik zurecht gekommen und habe irgendwann aufgegeben. Angesehen haben wir diese Filme nie. Aber wo sind sie? Irgendwo müssen sie doch sein. Ich gehe auf die Suche und entdecke die Kamera im Keller mit etlichen kleinen Kassetten, kleiner als A 6. Da drin waren die Erinnerungen! Ich fand auch die zwei alten Akkus, die mich damals schon wahnsinnig gemacht haben. Und das Ladegerät. Ich steckte sie rein. Ein Akku war kaputt. Aber das andere ließ sich aufladen. Ohne viel Hoffnung steckte ich es in die Kamera, strengte meinen Kopf an und erinnerte mich, wie sie anzuwerfen war. Ich fand die Play-Taste, guckte durch das kleine Fenster der Kamera – und da sah ich Klein-Anna, Klein-Lena und Winzig-Jan. 1994. In schwarzweiß. In stumm. In klitzeklein. Aber meine Vergangenheit! Stundenlang guckte ich durch dieses Zeitfenster und kriegte den zweiten Zeitsprung innerhalb kurzer Zeit manchmal kaum auf die Reihe. 9 Jahre lang habe ich sporadisch gefilmt. Nie habe ich die Filme angesehen. Und nun waren sie wie ein Schatz, den ich da geborgen hatte. Nostalgische Momente.
Anna gibt die Kamera nicht mehr aus den Händen. Das war ja ein Kinderparadies, sagt sie: Schaukel, Sand, Fahrzeuge, Zelte, Tiere. Sie guckt und guckt… Versöhnt mit ihrer Kindheit? In den folgenden Tagen tauche ich immer wieder ab in unsere Vergangenheit. Kinder, die mit dem Roller rumfahren, schaukeln, sandeln, plantschen…
In der Zwischenzeit verabschiedet sich mein PC. Zuerst kommt die Meldung „Akkuzustand leer, bitte aufladen“. Dann, als ich es ignoriere: „Der Ruhezustand wird vorbereitet“. Ein paar Minuten später geht er aus. Irgendwie bildhaft…Ich stelle fest, dass er sich nicht mehr anschalten lässt. Diagnose: Festplatte zerstört. Plötzlich habe ich wirklich Zeit. Es dauert viele Tage, bis ich einen funktionsfähigen PC zurück erhalte. Die bildschirmfreie Zeit ist sehr seltsam. Das Wetter ist traumhaft. Ich arbeite viel im Garten. Er gefällt mir jetzt sehr. Ich lerne wieder zu lesen. Ich rede viel mit Anna und mit Lena. Ich schreibe viel Tagebuch. Ich sitze mit dem Hund am See und gucke. Ich kann viele Informationen nicht nachsehen im Internet. Ich kann nicht schreiben. Niemand kann mir mailen. Ich telefoniere. Walke mit einer Freundin. Habe mit einer anderen ein klärendes Gespräch. Aber das Allerbeste dieser Zeit ist, als ich den Freund meiner mittlerweile 19jährigen Lena frage, wie ich herausfinden kann, ob die Kamera beim Filmen damals auch den Ton aufgenommen hat. Er bringt mich auf die Idee, einen Kopfhörer anzuschließen und plötzlich ist auch noch Ton da! Ich wusste nicht mehr, wie die Stimmen der Kinder geklungen haben. So verbringe ich wieder Stunden damit, all diese Kassetten erneut anzusehen, zehnfach im Wert gesteigert durch den Ton. Bianka kam, sah und hörte! So muss es im Himmel sein, wenn wir unser Leben rückwärts verstehen werden. Bewusstseinserweiterung. Dann wird es keine Fragen mehr geben, dann sehen wir unser Leben im Zusammenhang, erkennen im Rückblick wozu alles gut war. Ich selbst bin nie auf den Filmen. Aber meine damalige Umgebung, die mir so konstant und unveränderbar erschien und die sich so sehr verändert hat. Elf Jahre ist es her. Jan mit Verbänden an seinen Händen, eine Woche nach seinem verheerenden Stromunfall. Total tapfer. Ich auch. Schwere Zeiten. Ich bin nie zu sehen, aber nun höre ich mich, wie ich rede beim Filmen. Im Zeitraffer darf ich einen kleinen Fokus meines Mutterseins noch einmal nacherleben, mein Glück der Vergangenheit.
Der Fund des Filmmaterials ist wie die Entdeckung einer Schatzkiste im Speicher. Wir haben alle große Freude daran. Wir sind hin und weg wie goldig die Kinder waren. Anna so schwerelos, gleichmütig, in sich ruhend. Lena so leidenschaftlich, verrückt, sinnlich. Jan so überaus besonders. Wenn ich die Kamera weglege und mir jemand von damals über den Weg läuft, kann ich plötzlich wieder das Kind in dem erwachsen werdenden Menschen sehen. Es steckt noch in ihm drin.
Am nächsten Tag gehe ich mit Lena bummeln. Das Mädchen, das mit zwei Jahren schrie: „Ich will kein Kleid anziehen!!“ sucht verzweifelt in zwanzig Läden nach einem Kleid für die Hochzeit seiner Schwester. Wieder daheim nutze ich jede freie Minute, um in das Zeitfenster zu linsen. Völlig platt im wahrsten Sinne des Wortes bin ich –ich drücke mir die Nase platt, springe zwischen zwei Welten hin und her. Ich sitze im Garten, sehe die kleine schwarz-weiße neunjährige Anna, die noch etwas ungeschickt Teig für Weihnachtsbrötchen auswellt. Währenddessen kommt die 21jährige Anna zu mir rausgehüpft, dieselben Gene, nur ein paar Jahre älter, lächelt über ihre nostalgische Mutter und steckt mir eine Kostprobe ihres Kuchens, den sie gerade gebacken hat in den Mund. Jan konnte mit vier Jahren kaum ein Wort reden. Ich wusste nicht mehr, wie sehr behindert er war. Wir wussten damals nicht, wie sich das auf sein Leben auswirken würde. Offensichtlich verstand er aber viel, wird er von allen aus der Familie mitgetragen, stellt er ein enormes Bündel an Aufgabe dar. Wir sind völlig verblüfft, wie selbstständig er sich entwickelt hat –im Rückblick wird mir bewusst, welche Leistung er da vollbracht hat und ich bin unglaublich stolz auf ihn und uns. Und auf Gott. Jan hat den Stromunfall bis auf seine Narben an den Händen ohne Folgen überstanden. Anna und Lena, die sich nebenbei immer wieder in Geduld und Fürsorge üben. Wie nah aneinander sie aufgewachsen sind! Sie begleiten Jan seit sechzehn Jahren. Als sie mit mir die Filme ansehen, beginnen sie zu ahnen, wie ich mich als Mutter gefühlt habe. Meine Dankbarkeit wächst von Film zu Film. Gott ist uns immer zur Seite gestanden. Er hat uns immer genügend Weisheit und Hilfe gegeben in unserem Elternsein. Heute haben wir immer noch ein gutes Verhältnis zu den Kindern, unsere Ehe lebt. Ich spreche Anna vorsichtig darauf an, dass sie oft hat zurück stecken müssen Jan zuliebe. Sie kann sich nicht erinnern, das jemals als negativ empfunden zu haben. 
Heute abend dann die dritte Überraschung. Der Computermann kommt und bringt mir meine Verbindung zur Außenwelt wieder. Ich zeige ihm meine antike Kamera, frage, ob es eine Möglichkeit gibt, unsere Filme mit dem Fernseher zu verknüpfen. Er schickt mich zu einem Fachgeschäft, wo man mir eine Adapterkassette für 30 Euro verkauft. Ich hätte 3000 dafür gegeben. Da hinein schieben wir unsere kleinen Kassetten und diese Adapterkassette schieben wir in den Videorekorder und das Wunder geschieht, wir sehen und hören und das auch noch in FARBE!!! Nun können wir die Filme im Fernsehen anzusehen, gemeinsam mit der ganzen Familie.
Anna, Lena und ich sind gerade zwei Stunden vor dem Fernseher gesessen und haben die Zeitreise gemacht. Jetzt sind sie in den Jugendkreis gefahren. Sie haben ihre Kindheit angesehen, ihre Liebe zueinander, ihr Kindseindürfen in unserem fröhlich-chaotischen Zuhause, sie haben gesehen, wie sie Brötchen gebacken und gesungen haben, wie Werner mit Anna Flötenunterricht genommen hat, einen Iglu im Schnee gebaut, wie sie im Sand und Matsch gespielt haben, zusammen gebadet, mit dem Hund gebalgt, mit den Hasenjungen gespielt, getanzt, Gedichte rezitiert, auf dem Acker gespielt. Sie haben erlebt, wie Jan damals panische Angst vor dem Baden hatte, sie waren mit mir stolz auf den großen kleinen Mann. Ich bin Gott so dankbar. Sooo dankbar. Sie ist vorbei, die Zeit, ich lebe abschiedlich seit Jahren, aber nun habe ich ein Juwel das mir hilft, diese Zeit ins Gedächtnis zu rufen. Ich könnte heulen ohne Unterbrechung. Vor Freude und Dankbarkeit.
Mir wird bewusst, dass man auch mit 45 noch nicht „fertig“ ist. Unser Garten ist erst heute so wie wir ihn uns gewünscht haben, und auch heute immer noch nicht wirklich fertig. Ich gefalle mir heute als Gesamtbianka besser als damals. Und ich hoffe, dass ich noch nicht aufhöre, zu wachsen. Zumindest innerlich. Dass ich noch lange nicht am Ende bin.