Fromme Hausfrau - Artikel von Bianka - Joyce - Beiträge aus Joyce Journal - Journal - Zeit der Erlaubnisse 



Nachdem ich einen Miesepeterartikel darüber gelesen habe, dass Rotwein selbst in homöopathischen Dosen genossen die Krebswahrscheinlichkeit deutlich mehr erhöht als das Herzkreislaufrisiko senkt, vergeht mir irgendwie die Lust am Leben. Ist denn alles lebensgefährlich was Spaß macht? In der einen Woche lese ich, dass Leitungswasser allemal gesünder sei als Mineralwasser mit KohlenSÄURE, um in der nächsten Woche die Mahnung zu hören, dass man sich schon gut überlegen solle, welchen Leitungen man Vertrauen schenke. Die Samstagsbeilage der Zeitung fordert mich auf, meine regelmäßige Beckenbodengymnastik nicht zu vergessen, falls ich nicht die Senkung sämtlicher innerer Organe riskieren wolle. Nehme ich auch genügend Calcium zu mir, um Osteoporose vorzubeugen? Bewege ich mich genügend, um Bandscheibenvorfällen vorzubeugen? Heute schon an Bauchgymnastik gedacht? An Sonnenschutz? Fünf rote oder grüne Mahlzeiten zu mir genommen?? Und wann habe ich zum letzten Mal Zahnseide benutzt? Überhaupt – wende ich die korrekte Zahnreinigungstechnik an mit dreißigprozentigem Neigungswinkel der Zahnbürste, um Parodontose vorzubeugen? Und bei der Gelegenheit bietet es sich ja an, das dreimal tägliche Zähneputzen mit kleinen aber effektiven Gymnastikübungen zur Stabilisierung der Beinmuskulatur und des Gleichgewichtssinns zu verbinden! Habe ich bereits eine Zahnzusatzversicherung oder bin ich insgesamt bedrohlich unterversichert?

 

Ich bin in der „Um-zu“-Abteilung des Lebens gelandet – um überleben zu wollen, gesund und schön zu bleiben, jung auszusehen ist es nötig zu ... wer investiert hat mehr in der Hand. Von Natur aus mit der Bereitschaft ausgerüstet, mich zu fürchten, springe ich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf „Du sollst“-Gebote an. Weitere „Must’s“ der Dieszeit lauten z.B.:

 

Du sollst keine Falten haben!

Du sollst graue Haare verstecken!

Du sollst selbstbewusst und schlank sein!

Du sollst positiv denken!

Du sollst dein Leben neu erfinden am besten gleich dich selbst!

Du sollst den Tag nutzen!

Du sollst deine Zeit gut einteilen!

Du sollst stark und fröhlich sein! Tapfer und mutig!

Du sollst genügend Vitamine zu dir nehmen!

Rechtsdrehende Jogurtkulturen. Antioxidantien. Omega 3 Fettsäuren. Und Folsäure, Selen …

 

In meiner Tür hängt ein Plakat. Darauf guckt mich sehr gelassen eine sehr alte Astrid Lindgren mit sehr vielen, sehr sympathischen Falten an und sagt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Ha! Ich schreibe mit dickem Stift weitere Astrid-Du-darfst-Botschaften darunter: „Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern!“ „Die Welt ist voll von Sachen und es ist wirklich nötig, dass sie jemand findet.“ „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“ Jawoll! Ich darf, kann und will!

 

Ich darf schwach sein und jammern!

Ich darf traurig sein und weinen!

Ich darf glücklich sein, leichtsinnig und auffällig laut lachen!

Ich darf Fehler machen, mich entspannen, mich zurückziehen, nein denken und sagen.

Ich darf mich verändern, altern, sterblich sein.

Ich will meine Zeit genießen alle guten Tage meines Lebens lang.

Ich brauche mein Leben nicht durchstrukturieren wie einen Betrieb, der perfekt funktionieren muss.

Ich will mich nicht fürchten.

Ich will meine Geborgenheit nicht im Machbarkeitswahn suchen, sondern im Glauben an den Gott, der mich liebt und mir Gutes gönnt. Und der für alle Fälle einen Plan B für mein Leben bereit hat.

 

Ich unterwerfe mich der Diktatur der „Du sollst’s“ aus Angst vor Krankheit und Tod – und mache damit mein Leben zu einer Krankheit.  Meinen Kindern wollte ich immer ein Bullerbü-Leben ermöglichen. Für mich wird es Zeit, wieder auf Bäume zu klettern …