Fromme Hausfrau - Newsletter - Newsletter-Archiv - Newsletter vom 15.10.2009 



Ihr Lieben,

ich habe mir vorgenommen, euch hin und wieder durch ein Schlüsselloch in mein Leben blicken zu lassen. Heute habe ich euch ein paar Tagebuchnotizen abgeschrieben, die euch einen kleinen Einblick in mein derzeitiges Leben geben:

26.8.2009

Abschlussfeier an Jans Schule für Schwerhörige und Sprachbehinderte. Ein langer Lebensabschnitt geht zu Ende. Die ganze Woche frage ich mich, ob er nun wohl seinen Hauptschulabschluss geschafft haben mag. Wir wissen es nicht. Er glaubt es. Ich hoffe und bezweifle es. Mir ist es nicht wichtig, aber ihm. Ich konnte es mir nie vorstellen und sowieso kam vieles von dem was Jan erreicht hat, einem Wunder gleich. In der Gemeinde wurde hin und wieder für die Prüflinge gebetet, die das Abitur machten. Hierarchisches Leistungsdenken… Jans Hauptschulabschluss ist Abi hoch 2! Er wollte unbedingt den Anzug tragen, den ich ihm für Annas Hochzeit gekauft hatte. Ich hoffe, dass er nicht overdressed ist. Er hofft, dass Werner, Lena und ich nicht unpünktlich sind. Wir sind pünktlich, aber underdressed … Egal. Der Kreis schließt sich. Jans erster Schultag ist mir an seinem letzten so gegenwärtig.

Wie damals beobachte ich fasziniert die Gebärden sprechenden Menschen und fühle mich seltsam behindert und schwerfällig. Als die Trommelgruppe loslegt (auch wie am ersten Schultag), schießen mir Tränen in die Augen – welch starke, stärkende Ausdrucksmöglichkeit. Meine eigene Trommelsehnsucht klopft auch an. Mir fällt ein, dass ich mit zwölf so gerne Schlagzeug gelernt hätte, Geige hätte lernen dürfen, dankend ablehnte. Wie ich es liebte, den Bolero zu trommeln. Wie ich in der Kur so glücklich war im „African Rainmaker -Kurs“. Ob ICH trommeln will? Anna hat mich zum Reiten gebracht, vielleicht schafft Jan es noch, dass ich zu trommeln beginne… Zum Schluss bringt er mir sein Zeugnis. Erst finde ich keine Note, denke, aha, er hat aus Erbarmen auch ein Zeugnis bekommen, obwohl durchgefallen. Dann sehe ich eine 2,8 und denke, das ist die Relinote. Dann erkenne ich, dass es seine Abschlussnote ist …

1.9.2009

Bin müde von dem Tag. Wir haben Jan ins Internat nach Winnenden (wo der Amoklauf war) gebracht, ich habe dabei immer wieder an die gerade nach Phuket (wo der Tsunami war) fliegende Anna gedacht, die Beerdigung eines Jungen aus der Gemeinde mit vorbereitet, der so alt ist wie sie. Werner und ich sind in einen Biergarten gefahren, um den neuen Lebensabschnitt einzuläuten und Trost zu finden, haben uns stattdessen ziemlich unsanft über ein Thema auseinandergesetzt, das wohl gerade dran zu sein scheint. Am Ende sind wir im Garten nebeneinander eingeschlafen, bis uns Lena erschreckte, indem sie eine Decke auf uns legte. Danach war ich hellwach todmüde …
Jan hat mehr als bedröppelt geguckt im Internat und all seine emotionale Kraft gebraucht, um tapfer zu sein. Ich entsprechend ebenfalls. Es hat wehgetan, mehr als erwartet. Ich habe Materialien zuhause vergessen, die er am ersten Tag gebraucht hätte. Ich fühlte mich so dumm und schuldig. Jan war nicht in der Lage, sein Bett zu beziehen. Ich fühlte mich so unzulänglich. Habe ich mein Kind überhaupt ausreichend fürs Leben ausgerüstet? Schiebe ich ihn ab? Lasse ich ihn im Stich?? Sein Zimmer wirkt karg und nüchtern, sein Zimmerkollege seltsam und unfreundlich, seine Gruppenleiterin so nahbar wie Mr. Spock von Raumschiff Enterprise. Alles erste Eindrücke, ich weiß. Aber sie haben uns allen vieren den Schneid genommen. Jan hat überhaupt nichts mehr gesagt. Er muss noch Zug fahren lernen. Ich das Loslassen. Wer gibt ihm Hustensaft, wenn er hüstelt? Wer kuschelt mit ihm, wenn seine Seele friert? Oh Gott … Loslassen fühlt sich mal wieder beängstigend unsicher an.
Als Jan heute Morgen die Sportnachrichten las und sagte: „Willst du zwei glückliche Holländer sehen?“, befiel mich Wehmut. Wie bin ich seine Sportkommentare gewohnt. Ich mag keine Wochenendbeziehung zu ihm haben. Jan ist so ein wesentlicher Bestandteil unseres Alltags. Werde am Freitag den roten Teppich für ihn ausrollen, in Form von Pudding und Maultaschen. Die Wochenenden der nächsten Monate werden wir für Jan reservieren und nur Dinge machen, die ihn auffüllen. So rolle ich den grünen Teppich der Hoffnung aus und reiche Jan an Gott weiter, seinem himmlischen Papa. Loslasstrainingslager …

2.9.2009

Habe mit Jan ausgemacht, ihm eine SMS zu schreiben mit den Worten: "Ist er okay?" Damit meinte ich den Kumpel mit dem er sein Zimmer teilt, Özkan, der sofort ein Einzelzimmer verlangte ... Ich simste also, allerdings aus Versehen: "Ist es okay?" Eine Minute später: „Ja". Damit sollte wohl alles gesagt sein. Ich insistierend zurück: "Ist er auch okay?" Keine Antwort mehr. Heute Abend ein zweiter Versuch. „Hallo Jan, wie geht es dir? Ich wünsch dir eine gute Zeit. Mama". Eine Minute später: „Hallo Mama, Mir geht es sehr gut Hab dich lieb Jan". Da hat mein Herz aber Plumps gemacht!! Mein erster SMS-Wechsel mit meinem Sohn. Er sagt mir so gut wie selten von sich aus, dass er mich lieb hat. Bin beschenkt und erleichtert.

Anna schreibt auch. Wenn ich ihren Flugbericht lese, reicht es mir schon völlig. Ich gehöre zu der aussterbenden Spezies Mensch, die noch nie geflogen ist. Mir genügt es schon, Europa mit dem Wohnwagen zu bereisen, schon dafür ist mein Leben zu kurz. Das muss man realistisch sehen! Keine Zeit für andere Kontinente ... Ich google Anna hinterher, folge ihr auf exotische Strände ohne das sehr exotische Essen essen zu müssen. Noch 24 Tage ...

6.9.2009

Haben Jan heute Abend nach Stuttgart gefahren, um ihm die Reise zu verkürzen und auf Revivaltour zu gehen (immerhin haben wir dort mal zwei Jahre gewohnt). Als wir in den riesigen Bahnhof kamen, trafen wir auf dem Weg zur S-Bahn Ötzkan. Ich liiiebe Gottes „Zufälle“ Das müsste man erst mal hinkriegen, so eine punktgenaue Landung. Seltsamerweise habe ich die meisten Flecken Stuttgarts nicht mehr wirklich wiedererkannt …

9.9.2009

Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren muss ich nicht mehr um 6.13 Uhr als Erste im schlafenden Haus aufstehen, sondern kann liegen bleiben, so lange mir beliebt. Zumindest theoretisch. Natürlich warten Pflichten auf mich, aber nicht mehr streng terminiert. Ein völlig neues Morgengefühl! Hier hat Loslassen eindeutig einen Gewinn gebracht! Ich versuche bei Werner noch ein paar Kuschelminuten raus zu schlagen, reibe mich an seiner kratzigen Wange. Werner brummt schlaftrunken: „Ich mag es, wenn ein Schwein sich an mir kratzt.“ Ich kitzle ihn empört. Er wehrt sich: „Ich bin doch das Wildschwein, an dem das kleine Schweinchen sich kratzt.“ Ich kitzle empört weiter. Er japst: „Ich hab dich doch schön geredet! Ein liebes, kleine wohl riechendes Schweinchen …“ Ich glaube, es geht uns nicht ganz schlecht.

20.9.2009

Wir fahren Jan nach Winnenden und dann weiter an den Gardasee, noch einmal Sonne tanken. Es ist Silberhochzeitsjahr, Jan die ganze Woche weg, die Mädchen sind ausgewandert und wir herausgefordert, Ehe neu zu erfinden. Immerhin gab es uns schon vor ihnen und es gibt uns immer noch, gewandelt, gereift, verwittert, aber immer noch gibt es uns als Paar Es war ein Kunstgriff, den Wohnwagen zu kaufen, ein Akt des Gönnens. Hat Mut gekostet, aber er passt uns wie angegossen. Schon als Kind las ich gern „Pimpinellis unterwegs“. Endlich haben wir wieder eine Form gefunden, wie wir urlauben können und waren schon mehrmals ein paar Tage weg damit. Wie früher geschehen gerade in diesen kleinen Auszeiten grundsätzliche Dinge zwischen uns. Wir brauchen den Abstand, um uns zu finden. Zum ersten Mal seit 23 Jahren sind wir vier Nächte zu zweit unterwegs. Ein Wochenende hatten wir schon hin und wieder. Es ist wie am Anfang. Wir campen mit dem Wohnwägelchen in sehr privilegierter Lage zwischen Rentnern und Kleinkindern in der Nähe von Lazise ganz vorne am See. 






26.9.2009

Annas Comeback…

"Heute war ein schöner Tag“ hat Jan manchmal gesagt in den letzten Monaten – in Holland oder nach den Wochenenden daheim, die er intensiv erlebt im Wissen, dass er bald wieder zurück nach Winnenden muss. Heute war ein schöner Tag!! Oh oh ich bin so glücklich! Big Mama ist wieder völlig komplett. Smiley

Heute haben wir Anna inklusive Mann vom Flughafen abgeholt. Wir sind doch tatsächlich auf der Suche nach ihnen stramm an ihnen vorbeimarschiert - ich hab mein eigenes Kind nicht mehr erkannt ... Zum vierten Mal sind wir als großer Pulk von zwei Familien mit Kind, Kegel und Hunden unterwegs gewesen im Gewirr von Gates, Stockwerken, MacDonalds und Stewards. Durch die Doppelromantik von zwei Brüdern und zwei Schwestern war das Hinbringen und Abholen unserer Töchter jedes Mal ein familienübergreifendes emotionales Unternehmen. Smiley Seufz.

4.10.2009

Anna ist wirklich zurück. Sie ist verändert und dieselbe, ich genieße es in vollen Zügen, sie um die Ecke zu wissen statt um den Erdball. Sie singt mit mir Gospels und kichert über dieselben Dinge. Sie zieht verrückte Sachen an, krempelt die Ärmel hoch und richtet sich neu ein in good old Germany. Das Leben ist schon bunter, seit Anna und Lena wieder zurück sind. Das ist wundervoll, aber es ist auch wundervoll, dass sie weg waren, um ihrer selbst willen. Was habe ich meine Mädchen vermisst und heute bin ich so froh, dass ich es ihnen gegönnt habe, wenn ich sehe, wie sie gereift sind, wie sie so glücklich waren und wie sie die Chance genutzt haben, sich von Mama Bär zu befreien ... 

Schade, schade nur, dass ausgerechnet jetzt Jan weg ist. Er fehlt. Seine Abwesenheit reißt ein Loch in unseren Familienalltag. Es ist gut, dass er diesen Platz gefunden hat, und traurig. Er lernt viel, wächst an Mut und Selbständigkeit, aber es ist mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen seines Lebens. Er muss sehr tapfer sein. Im Moment macht er ein Praktikum als Obst- und Gemüsegärtner und kommt ziemlich an seine Grenzen. Manchmal erfahren wir eine Kleinigkeit aus seinem Leben, z.B. dass er morgen frisch einsäen muss, weil er nicht gerade gesät hat …

5.10.2009

Der Herbst – kommt allmählich. Lena sagt, noch nie habe sie die Kastanienzeit so intensiv erlebt wie dieses Jahr als Schulbegleiterin des kleinen Jungen, um den sie sich im Rahmen ihres Freiwilligen Sozialen Jahres kümmert. Kastanienmännchen, Kastaniengeschichten, Kastanienbilder - dabei hat sie vergessen, wie intensiv wir das in ihrer eigenen Kindheit zelebriert haben, es ist lediglich eine Wiederholung für die Seele. Smiley Meiner Seele geht es grad lebenssatt gut. Auch schön nach all den Tälern der letzten zwei Jahre …

Zum Schluss noch ein paar Infos: 

Hin und wieder werde ich angemailt, ob ich ein Buch signiere für einen lieben Menschen. Das kann ich euch gern generell anbieten: Eine Mail genügt, eine kurze Beschreibung, wem die Widmung gelten soll, vielleicht ein zwei Worte zur Lebenssituation, ich schicke euch das Buch gerne zu.

Unser Familienbuch ist zum fünften Mal erschienen (und nur noch knapp 350 Exemplare lieferbar), wieder leicht überarbeitet anhand von Wünschen aus eurer Praxis. Wie sehr uns solche Stimmen inspirieren, haben Martin Gundlach und ich dieses Jahr gemerkt, als uns jemand bat, ein „Freundebuch für Große“ herauszugeben. Die Idee hat uns gefallen und wir haben sie in die Tat umgesetzt.

Freunde, Gäste, Wegbegleiter hat eine verdeckte Spiralbindung und viel Platz, um seine liebsten Freunde zu „verewigen“. Es eignet sich gut als Buch, das man jemandem zum Abschied schenken kann, gefüllt mit persönlichen Beiträgen, wie Anna und Lena sie zur Abreise geschenkt bekamen.

 

Es gab einige Nachfragen zum Bestellvorgang der Tagebuchhüllen für Mein Jahr. Bei Kalos (www.kalos.de) ruft man am besten an und bestellt telefonisch, es genügt zu sagen, dass man die Einsteckhülle für Mein Jahr will, welche Farbe, welches Material. Die Hüllen fallen wirklich wunderschön aus!

Zum Schluss noch etwas Peinliches, ich habe es schon im Forum geschrieben: In Mein Jahr stelle ich seit einigen Jahren als ersten Text die Jahreslosung rein. Keine keine keine Ahnung wie das geschehen konnte, aber ich habe die falsche erwischt. Bitte überschreiben!! Das sind die Momente, in denen ich an mir selbst zweifle. So etwas Unantastbares wie die Jahreslosung und da steht nun fröhlich und selbstbewusst: „Ich bin bei euch! Das verspreche ich, der Herr! Haggai 1,13 HfA (Jahreslosung)“. Und KEINER im Lektorat hat’s gemerkt. Ich fand eure Absolution im Forum wundervoll, wie ein Sinnbild für den Geist, der dort grundsätzlich atmet. Smiley 
Danke!


Herbstliche Grüße,

eure Bianka