Fromme Hausfrau - Newsletter - Newsletter-Archiv - Newsletter vom 04.05.2007 



Hallo Ihr Lieben!

Neulich habe ich in der Zeitschrift Family über das Phänomen geschrieben, wie scheinbar unverändert mein Alltag in der Regel daherkommt, Tag für Tag so unspektakulär, normal und schlicht, dass ich kaum auf die Idee komme, Szenen daraus für die Ewigkeit festzuhalten - zum Beispiel per Film. Das Leben scheint irgendwie ewiggleich, gestern, heute und morgen. Und doch geschehen gerade in dieser Illusion der Gleichförmigkeit die großen Veränderungen - in all den kleinen Momenten, die scheinbar so unwandelbar daher kommen.

Ich bin sowieso nicht so der Technikfreak, viele Errungenschaften gehen an mir vorbei. Hin und wieder habe ich mich darin versucht, mitzuhalten, beim Computer hat das leidlich hingehauen, beim Filmen weniger. Davon möchte ich euch erzählen. Ich hoffe, ihr habt ein bisschen Zeit.

Meine Mutter hat gefilmt, aber ich habe die alten Super 8 Filme seit meiner Kindheit nie mehr gesehen, weil es kein Abspielgerät mehr gab. Nun haben wir sie auf Video überspielen lassen. Neulich abends habe ich sie ganz allein angesehen. Uralte Szenen. In schlechter Qualität. Unchronologisch geschnitten. Bianka in klein in stumm in schwarzweiß, abwechselnd zwischen 9 und 14. Selten die normalen Alltagsszenen, leider, denn die würden mich jetzt brennend interessieren. Aber immerhin Ostern, Weihnachten, Fasching, Urlaub.

Ganz still saß ich eines Abends mehrere Stunden in eine Decke gehüllt auf unserem Sofa und bin in meinem Herzen auf Zeitreise gegangen. Das Haus, das meine Eltern mit den ersten gesparten 1000 Mark angefangen hatten zu bauen, voll Vertrauen in ihre Kraft und Ausdauer, voller Hoffnung, ihren Kindern ein Zuhause bieten zu können in der Nachkriegszeit. Im Hof der VW Käfer, neben dem meine Eltern auf Hockern sitzen. Kinder, die mit dem Roller rumfahren, schaukeln, sandeln, plantschen. Mehr braucht es ja nicht für eine glückliche Kindheit. Bianka, die Ostereier sucht, Weihnachtsgeschenke bejubelt, Geburtstagskuchen isst, an der Adria Sandburgen baut. Wie alt ich heute bin! Wie lange das her ist! Bezeichnenderweise in einem vergangenen Jahrtausend. Hätte damals einer geahnt, wie meine Geschichte weitergehen würde? Dass ich Bibliothekarin werden würde, 500 Meter weg von meinen Eltern in ein altes Haus ziehen würde, drei Kinder haben, einen behinderten Jungen?

Mein Bruder, heute ein Riese, immer kleiner als ich, oft an meiner Hand, so selbstverständlich. Meine Mutter fand ihn immer drollig. Ich kann es jetzt auch sehen. Er war drollig! Ich so jung. Meine Mutter viel jünger als ich heute. Meine Kinder heute älter als ich selbst damals. Ich komme ganz durcheinander wegen dieses unglaublichen Zeitsprungs. Ich sehe mich immer wieder als fröhliches, unbeschwertes Mädchen. Im Garten war immer Wasser in irgendeiner Form verschiedener Becken, die mein Vater gebaut hatte. Es war ziemlich viel Verwandtschaft um mich herum, immer meine Oma, die Tür an Tür mit mir lebte. Nach der Anna benannt ist.

Es war alles mehr als schlicht. Sehr sauber. Eine Mutter, die immer da war. Ein Vater zum Anfassen. Ich war seine Prinzessin, er liebte mich sichtbar, der Riss kam erst in der Pubertät in unsere Beziehung. Auch das ist lange her. Heute bewerte ich meine Kindheit anders als nach meinem Auszug. Viel Gutes ist mir zuteil geworden, viel Schmerzliches erspart geblieben. Ich bin sehr dankbar, als ich diese Bilder sehe. Über die innere Versöhnung mit meinen Eltern, ohne dass wir je wirklich darüber gesprochen haben, was schief gelaufen ist. Über die Versöhnung mit dem Mädchen in mir, das da auf der Leinwand neu auferstanden ist und zu dem ich irgendwie freundschaftliche Gefühle hege.

Tage später noch beschäftigen mich die Bilder meiner Kindheitstage. Mir fällt ein, dass auch ich einmal gefilmt habe. Mit einer alten geschenkten Kamera. Ich habe das Teil hin und wieder benutzt, bin aber nie wirklich mit der Technik zurecht gekommen und habe irgendwann aufgegeben. Ich gehe auf die Suche und entdecke die Kamera im Keller mit etlichen kleinen Kassetten. Da drin sind die Erinnerungen! Ich finde auch zwei alte Akkus, die mich damals schon wahnsinnig gemacht haben. Und das Ladegerät. Ich stecke sie rein. Ein Akku ist kaputt. Aber der andere lässt sich aufladen. Ohne viel Hoffnung stecke ich ihn in die Kamera, strenge meinen Kopf an und erinnere mich, wie sie angeht. Ich gucke durch das kleine Fenster der Kamera – und da sehe ich Klein-Anna, Klein-Lena und Winzig-Jan. 1994. In schwarzweiß. In stumm. In klitzeklein. Aber meine Vergangenheit! Stundenlang gucke ich durch dieses Zeitfenster und kriege den zweiten Zeitsprung innerhalb kurzer Zeit manchmal kaum auf die Reihe. Neun Jahre lang habe ich sporadisch gefilmt. Angesehen haben wir die Filme nie. Nun sind sie wie ein Schatz, den ich geborgen habe. Es ist als dürfte ich Teile meines Lebens noch einmal nacherleben. Nostalgische Momente.

Anna gibt die Kamera nicht mehr aus den Händen. Das war ja ein Kinderparadies, sagt sie: Schaukel, Sand, Fahrzeuge, Zelte, Tiere. Sie guckt und guckt … Mein Kind schwelgt in Kindheitserinnerungen ... In den folgenden Tagen tauche ich immer wieder ab in unsere Vergangenheit. Kinder, die mit dem Roller rumfahren, schaukeln, sandeln, plantschen …

In der Zwischenzeit verabschiedet sich mein PC. Zuerst kommt die Meldung „Akkuzustand leer, bitte aufladen“. Dann, als ich es ignoriere: „Der Ruhezustand wird vorbereitet.“ Ein paar Minuten später geht er aus. Irgendwie bildhaft. Ich stelle fest, dass er sich nicht mehr anschalten lässt. Diagnose: Festplatte zerstört. Plötzlich habe ich wirklich Zeit. Es dauert viele Tage, bis ich einen funktionsfähigen PC zurück erhalte. Die bildschirmfreie Zeit ist seltsam. Das Wetter ist traumhaft. Ich arbeite viel im Garten. Er gefällt mir jetzt sehr. Ich lerne wieder zu lesen. Ich rede viel mit Anna und mit Lena, schreibe viel Tagebuch. Ich sitze mit dem Hund am See und gucke. Ich kann viele Informationen nicht nachsehen im Internet. Ich kann nicht schreiben. Niemand kann mir mailen. Ich telefoniere. Walke mit einer Freundin. Habe mit einer anderen ein klärendes Gespräch.

Aber das Allerbeste dieser Zeit ist, als ich den Freund meiner mittlerweile 19-jährigen Lena frage, wie ich herausfinden kann, ob die Kamera beim Filmen damals auch den Ton aufgenommen hat. Er bringt mich auf die Idee, einen Kopfhörer anzuschließen, und plötzlich ist auch noch Ton da! Ich habe nicht mehr gewusst, wie die Stimmen der Kinder geklungen haben. So verbringe ich wieder Stunden damit, all diese Kassetten erneut anzusehen, die sich im Wert noch gesteigert haben. Bianka kam, sah und hörte! So muss es im Himmel sein, wenn wir unser Leben rückwärts verstehen werden. Bewusstseinserweiterung. Dann wird es keine Fragen mehr geben, dann sehen wir unser Leben im Zusammenhang, erkennen im Rückblick, wozu alles gut war. Im Zeitraffer darf ich einen kleinen Fokus meines Mutterseins noch einmal nacherleben, mein Glück der Vergangenheit.

Ich bin hin und weg, wie goldig die Kinder waren. Anna so schwerelos, gleichmütig, in sich ruhend. Lena so leidenschaftlich, verrückt, sinnlich. Jan so überaus besonders. Wenn sie mir jetzt über den Weg laufen, kann ich plötzlich wieder das Kind in den erwachsen werdenden Menschen sehen. Es steckt noch in ihnen drin. Lena, das Mädchen, das mit zwei Jahren schrie: „Ich will kein Kleid anziehen!!“ sucht heute mit mir mit derselben Verzweiflung nach einem Kleid für die Hochzeit seiner Schwester.

Ich nutze jede freie Minute, um in das Zeitfenster zu linsen, völlig platt, im wahrsten Sinne des Wortes – ich drücke mir die Nase platt, springe zwischen zwei Welten hin und her. Ich sitze im Garten, sehe die kleine schwarz-weiße neunjährige Anna, die noch etwas ungeschickt Teig für Weihnachtsbrötchen auswellt. Währenddessen kommt die 21-jährige Anna zu mir rausgehüpft, dieselben Gene, nur ein paar Jahre älter, lächelt über ihre nostalgische Mutter und steckt mir eine Kostprobe ihres Kuchens, den sie gerade gebacken hat, in den Mund. Solche Kuchen kriege ich nicht hin!

Jan konnte mit vier Jahren kaum ein Wort reden. Ich wusste das nicht mehr. Wir wussten damals nicht, wie sich seine Behinderung auf sein Leben auswirken würde. Wir sind verblüfft, wie selbstständig er sich entwickelt hat – im Rückblick wird mir bewusst, welche Leistung er da vollbracht hat, und ich bin unglaublich stolz auf ihn und uns. Und auf Gott. Ich sehe mit einem Stich im Herzen Jans Schwestern, die sich immer wieder in Geduld und Fürsorge üben. Wie nah aneinander sie aufgewachsen sind! Sie begleiten Jan seit 16 Jahren. Meine Dankbarkeit wächst von Film zu Film. Gott ist uns immer zur Seite gestanden. Er hat uns immer genügend Weisheit und Hilfe gegeben in unserem Elternsein. Heute haben wir immer noch ein gutes Verhältnis zu den Kindern, unsere Ehe lebt. Ich spreche Anna vorsichtig darauf an, dass sie oft zurückstecken musste Jan zuliebe. Sie kann sich nicht erinnern, das jemals als negativ empfunden zu haben.
 
Gestern Abend dann der Überraschung dritter Akt. In einem Fachgeschäft kaufe ich eine Adapterkassette für 30 Euro. Ich hätte 3000 dafür gegeben. Da hinein schieben wir unsere kleinen Kassetten und diese Adapterkassette schieben wir in den Videorekorder und das Wunder geschieht, wir sehen und hören und das auch noch in FARBE!!! Nun können wir die Filme im Fernsehen ansehen, gemeinsam mit der ganzen Familie.

Anna, Lena und ich haben gerade eine zweistündige Zeitreise gemacht. Sie haben ihre Liebe zueinander gesehen, ihr Kindseindürfen in unserem fröhlich-chaotischen Zuhause, sie haben gesehen, wie sie Brötchen gebacken und gesungen haben, zusammen gebadet, im Sand und Matsch gespielt, mit dem Hund gebalgt, mit den Hasenjungen gespielt, getanzt, Gedichte rezitiert, mit Werner einen Iglu im Schnee gebaut. Sie haben erlebt, wie Jan panische Angst vor dem Baden hatte, waren mit mir stolz auf den großen kleinen Mann. Ich bin Gott so dankbar. Sie ist vorbei, diese Zeit voller Augenblicke, aber nun habe ich ein Juwel, das mir hilft, sie mir ins Gedächtnis zu rufen.

Mir wird bewusst, dass ich auch mit 45 noch nicht „fertig“ bin. Unser Garten ist erst heute so, wie ich ihn mir gewünscht habe, und auch heute immer noch nicht wirklich fertig. Ich gefalle mir heute als Gesamtbianka besser als damals. Und ich hoffe, dass ich noch lange nicht am Ende bin.

Seid ihr noch da? Falls ihr noch zögert, ob ihr euch in die Technik des Filmens reintasten sollt, kann ich euch nur raten: Zögert nicht! Und vielleicht hat ja die eine oder andere von euch die Idee, mal im Keller zu graben…

Ich grüße euch von Herzen aus dem mediterranen Süden Deutschlands,

eure Bianka