46 ausgepresste Zitronen
Bianka Bleier fährt auf eine Frauenfreizeit
Ich weiß, manche sind anders. Doro zum Beispiel. Die freut sich schon das ganze Jahr auf dieses Wochenende. Arglos und unbefangen. Ich dagegen raube mir die schönste aller Freuden durch systematisches Sorgen. Grundlos und töricht. Das Wort "Frauen" jagt mir mittlerweile Angstschauer über den Rücken. Kann ich noch abspringen? Mich brauchen die doch nicht, passe ich da überhaupt dazu?
Eine Woche vor dem Countdown gibt Doro mir Hoffnung mit der liebevollen Rüge: "Du sollst dich freuen, Mensch! Wir gehen doch da hin zum Auftanken!"
Stimmt!
Eine halbe Stunde vor Abfahrt schaffe ich es gerade noch, schweißgebadet zum Penny zu rasen und Tiefkühlpizzas, Käse, Brot und Milch als Überlebensration für die Meinen zu kaufen. Wenn ich es nicht tue, werden sie sich welche vom Italiener bringen lassen ...
Der Sturm vor der Ruhe. Wie in der dramatischsten Hollywoodszene renne ich durch das Haus und werfe Habseligkeiten in meinen Koffer: Frauen, ich komme!
Und eins gleich vorweg: Zwei Tage später um dieselbe Uhrzeit schwingt in mir ein Loblied auf diese wundervolle, von Gott so liebevoll ausgestattete Gattung Mensch. Ich liebe Frauen! Diese sympathischen, gemütvollen, einfühlsamen, mitteilungsfreudigen, humorvollen, geistig, körperlich und seelisch, musikalisch und schauspielerisch so begabten Geschöpfe. Fühle mich so verwandt mit ihnen ...
Weggetragen aus dem Alltag
"Diese Zitrone hat noch Saft - Woher Power auf die Dauer?" das ist unser Thema. Der Inhalt von Koffern und Taschen wird auf die Ein- und Zweibettzimmer verteilt - und dann gibt es auch schon Abendessen: Pizza! Man unterhält sich zwanglos über dies und das (Petra: "Habt ihr auch ein heiliges Briefle auf eurem Kopfkissen gefunden?" Stimmt, auf meinem stand "Blühe dort, wo Gott dich hingesät hat!").
Wir lassen uns im Versammlungsraum mit Buntglasfenstern und hoher Decke nieder, ansprechend mit Riesenzitronen dekoriert. Der erste Abend in schöner Tradition besinnlich, zum Puls runterfahren und aufs Thema einstimmen, zum Eingewöhnen und Warmwerden. Wir singen uns warm, und ich lasse mich von den Liedern wegtragen aus meinem Alltag. Mein Kopf beginnt, sich ganz allmählich zu leeren, mein Herz füllt sich mit Worten über Gott. Seufzer steigen in mir hoch. Wenn so viele Frauen in einem so großen Kreis miteinander singen, gibt das eine Wahnsinnsakustik! Ich sehe die lieben Gesichter, höre den Zuspruch aus den Liedern und frage mich, wovor ich Angst haben sollte ...
Andrea packt das Thema "Powerfrauen" bei den Hörnern, gibt Werbeausschnitte in die Runde, die uns zeigen, wie die Gesellschaft solche sieht: schön und selbstbewusst, erfolgreich und reich, cool und verführerisch, frisch, fit, schlank und sportlich, jung, gesund und dem Partner hingegeben. Multifunktional. Andrea ermuntert alle Frauen, die diesem Bild schon entsprechen, den Saal zu verlassen, da der Rest des Manuskriptes für sie uninteressant sein wird. Keine geht ...
Sibylle: "Die Frauen in der Werbung haben wirklich toll ausgesehen. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich auch so aussehen ... Aber ich bin Mutter und Hausfrau, also Köchin, Chauffeurin, Krankenpflegerin, Erfinderin, Zeitmanagerin, Geliebte ... Trotzdem denken wir mitten in diesem Fulltimejob oft noch, wir seien nicht leistungsfähig. Wie eine angeschnittene Zitrone vertrocknen wir. Irgendwann kommt kein Saft mehr ..."
Vier Frauen berichten über ihre Erfahrungen mit dem Zustand absoluter Kraftlosigkeit. Katharina erzählt aus ihrer Zeit, als sie mit Mann und fünf Kindern in einer Zweizimmerwohnung lebte und Angst hatte, krebskrank zu sein. Die ersten Taschentücher kreisen heimlich - ein Bild, das bald allen vertraut sein wird. Wir lernen uns kennen - und ich bin froh, mitgegangen zu sein.
Brigitte erzählt die Geschichte mit ihrem Adoptivsohn aus Indien und wie sie von Gott nach jahrelangem Durchhalten so beschenkt wurde. Elli, sechsfache Mutter, gerade mal so alt wie ich, erzählt, wie sie ihre momentane Phase der Kraftlosigkeit erlebt. "Eine Phase der bleiernen Dauermüdigkeit, die ich eigentlich gar nicht akzeptieren will und in der ich keine Perspektive sehen kann." Mittendrin steckt sie und gibt uns einen Einblick in ihr Leben, zieht keine fromme Maske auf - und ermutigt gerade dadurch andere, ehrlich zueinander zu sein. Ich bin froh, dass es möglich ist, Gefühle zu zeigen, sich verletzbar zu machen und anderen dadurch die Chance zu geben, selber zu sehen, wo sie auf ihrem Weg sind. Das scheint hier irgendwie leichter zu gehen als im restlichen Jahr.
Claudia erzählt über ihren Zusammenbruch und Neuanfang, als sie vor drei Jahren krebskrank wurde. "Mein Mann, meine Kinder, meine Freunde konnten mir durch ihr Da-Sein helfen, ohne sie wäre alles noch viel schlimmer gewesen. In der Tiefe aber war ich allein und verzweifelt. Meine allerletzte Anlaufstelle war Jesus, zu dem ich betete und flehte und von dem ich viel dauerhaften Trost bekam." Auch sie wünscht sich ein Lied. Dort heißt es: "Auch mit Gott gerät man in Krisen, Probleme, die unfassbar sind. Trotz aller Zweifel seid dennoch gewiss: Er schläft nicht und sorgt für sein Kind.
Wo feststeht, dass alles im Fluss ist, schwimmt vielen der Glaube mit fort. Gott ist unwandelbar, denn er ist Gott. Seid sicher: Der Herr hält sein Wort."
Wie Lieder zu uns sprechen und uns begleiten können!
Es berührt mich sehr, wenn Frauen den Mut aufbringen, in ihre Seele blicken zu lassen. Keine frommen Phrasen, Fragen dürfen offen bleiben. Gott allein weiß, welch ein Zeugnis es für andere sein mag, sich auch im Leid noch hoffnungsvoll an ihn zu klammern. Nähe wird da möglich, wo Menschen sich öffnen. Lächeln huschen hin und her - und ich fühle mich geborgen.
An den 45 Seufzern wird hörbar, dass das Gedicht von Sabine Naegeli nicht nur mir aus der Seele spricht:
"Wenn die Müdigkeit groß wird
Manchmal, Herr,
bin ich so müde,
dass ich nichts sehnlicher wünsche, als auszulöschen,
nicht mehr sein zu müssen.
Manchmal wird mir das Leben zu einer Last,
die ich abwerfen möchte.
Manchmal, Herr,
bin ich gänzlich unfähig,
mir vorzustellen,
wie es ist,
unbeschwert und fröhlich zu sein,
Schwung zu haben,
den Alltag anzupacken.
Alt und verbraucht
fühle ich mich.
Wenn diese lähmende Müdigkeit
nach mir greift,
dann laß mich Zuflucht finden,
mein Gott, bei dir.
Erinnere mich,
wie oft du mich schon befreit hast
aus solchen Tiefen.
Herr, ich will den Stimmen
des Misstrauens in mir
keinen Glauben schenken.
Du wirst mich nicht verlassen.
Mut und Freude
werden wiederkommen.
Ich lasse deine Verheißungen
nicht los."
In der Bibel steht "Wenn ihr umkehrtet und stille würdet, würde euch geholfen. Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein." (Jesaja 30,15) Waltraud: Mit welcher Geschwindigkeit rasen wir durch unser Leben? Wo füllt sich unser Terminkalender durch fragwürdige Motive, durch den Wunsch nach Anerkennung und Selbstbestätigung? Haben wir vergessen, dass wir nach Anspannung Ruhepausen brauchen? Nach dem Tag kommt die Nacht, nach sechs Arbeitstagen folgt ein Ruhetag. Jesus wusste, dass er sich immer wieder in die Stille zu seinem Vater zurückziehen musste. Aktivität runterfahren, die Stille suchen, aushalten, die Seele baumeln lassen ohne schlechtes Gewissen. In der Stille sind wir nah an Gottes Herz.
Nein sagen lernen
In jeder Frauenfreizeit das Aha-Erlebnis beim Blick aus dem Fenster am Morgen danach. Weil wir immer im Dunkeln ankommen ... Wo sind wir hier eigentlich? Ich sehe auf eine Nebellandschaft und versuche, mich zu orientieren. Glutrot geht die Sonne über Nebelschwaden auf, in der Ferne säulenartige Bäume. Bin ich in der Toskana? Ich will hier raus! Ich sehe eine glühendrote Sonne aus dem Nebel auftauchen und einen silbrigen Mond, der sich auf der anderen Seite des Himmels verabschiedet. Es ist ruhig. Ich bin allein mit Gott ...
Das Thema am Morgen: "Kraftkiller und Energiequellen". "Werde, was du bist, denn du bist ja, was du sein sollst" zitiert Ortrud. Leben in der Spannung zwischen "schon jetzt und noch nicht", zwischen "eigentlich ja, dennoch nein". Die Spanne dazwischen sei unser Ausgebranntsein.
Wir haben im Vorfeld ein paar Minuten investiert, um einen Begriff auf Klebezettel zu schreiben: Kraftkiller, die einer nach dem anderen an eine lebensgroße, weibliche Schaufensterpuppe geklebt werden (die allerdings verdächtig nach cooler vitaler Powerfrau aussieht). Am Ende wird plastisch klar, was Frauen belastet und Kraft raubt: Stress, Lärm, Langeweile, Ernährung, Gesundheit, Sport, Routine, Spiel, Ängste, Konflikte, Schicksal, mangelnde Kompetenz, Erfolg, Begabung, Freundschaft, Unzufriedenheit, Bitterkeit, Neid, Sorge, Einsamkeit, Empfindlichkeit, Ehrsucht ...
Heikes Mutter brilliert mit einem Gedicht zum Thema Routine:
Putzen, bügeln und auch flicken,
für jeden ein paar Socken stricken.
Die Kinder in den Kindergarten,
der Hund, der muss inzwischen warten.
Später muss er auch mal raus,
dann ist der Kindergarten aus.
Schnell noch mal um einzukaufen
in den Supermarkt gelaufen.
In Haus und Garten muss man gießen,
damit die Blumen kräftig sprießen.
Auch das Unkraut wächst im Nu
und der Wäscheberg dazu.
Geschichten lesen, möglichst viel,
zur Abwechslung ein neues Spiel.
Dazwischen nach dem Essen schauen,
das sind die Routinefrauen!
Jetzt kommt ein Vortrag, den Referentin Brigitte 49 Jahre lang vorbereitet hat. So fundiert und knackig, abgerundet und substanzvoll ist er. Sie redet über Kräfteabbau und Müdigkeit im normalen Lebenskreislauf von Arbeit und Freizeit und wie man Kräfte wieder aufbaut. Erzählt ihre Lebensgeschichte, in der Krankheit eine so große Rolle spielt und sie immer wieder an den Rand ihrer Kraft brachte. Schlicht, ehrlich und beeindruckend sagt sie, wie Jesus die absolute Größe für sie war in dieser Zeit, ermutigt dazu, mit ganz kleinen Gesten anzufangen, Wände zu durchbrechen, Menschen zu helfen, sich helfen zu lassen.
Daneben gibt es Überforderung durch Mangel an Kraft und Zeiteinteilung, realistischer Selbsteinschätzung, „Sprachfehler“ ("Ich kann nicht nein sagen", "Die kluge Frau hat's längst kapiert, Frau tut's nicht selbst, Frau delegiert!"). "Gott gleicht meinen Mangel aus, das ist meine Erfahrung" - aus Brigittes Mund keine fromme Formel, sondern glaubwürdige Ermutigung. Und trotzdem: "Gott ist auf viele Gebetsschreie nicht eingegangen, so dass ich ihn nicht mehr verstehen konnte.“ Brigitte redet von ihren Ängsten, das Leben zu verpassen, wie sie gegen Gott revoltierte, nicht annehmen wollte, was er in ihr Leben stellte.
Dann gehen wir in Kleingruppen. Das gefällt mir, weil Frauen hier eher wagen, sich einzubringen und oft ein fruchtbarer Austausch zustande kommt.
Nach dem Mittagessen marschiere ich mit Elli, der Unbesiegbaren, stundenlang durch den Herbstwald. Ich habe lange nicht mehr mit ihr alleine geredet.
Im Haus basteln sie derweil Karten und klönen bei Kaffee und Kuchen. Das ganze Jahr über bastle ich nicht, warum also nicht mal heute? Sich näher kommen, schäkern und ganz zwanglos übers Scherenausleihen und Uhu kleben Kontakte knüpfen ...
Tanzender Obstsalat
Am Abend dann ist Showtime, es startet die Christiana B. Ehrlichmann Show, die absolut einmalige und ultimative Powershow "Auf die Dauer hilft nur Frauenpower!"
Kräftemessen beim Tauziehen und dem Lebendtransport, bei dem Elli hoch in der Luft über achtzig Frauenhände schwebt und hemmungslos zurückgekitzelt wird ...
Beim Werberaten kommen die Showtalente ans Licht und die Lachfalten vertiefen sich erbarmungslos. Brigitte hat eine neue Frisur und benimmt sich unflätig beim Einstein-Milch-Spot. Ertappe mich dabei, meiner Nachbarin vor Lachen auf die Schenkel zu klatschen.
Und dann kommt, was noch nie da gewesen, mein ganz persönliches Highlight: Tanz! Bei dem köstlichen "Obstsalat" bewegen sich bunte Früchtchen ganz unglaublich mambomäßig durch den Saal, Rhythmus und Energie, Ausgelassenheit und Lebensfreude, als hätte jemand ein Ventil aufgemacht und Dampf käme mit Überdruck raus. Ich bin begeistert und verliebe mich in die Frauen im Allgemeinen und in diese im Besonderen. Als sie uns nach und nach dazuholen, möchte ich nie mehr aufhören. Lachend rumtoben dürfen, sich nach Musik bewegen, das finde ich klasse. Lebensfreude und Frauenpower füllen den Raum. Anmut, Schönheit und Fantasie, Witz, Turbulenzen und Spontaneität. Was da für Begabungen schlummern!
Ich weide mich neid- und fassungslos an all den Talenten, die mir abgehen, lasse mich ergänzen, habe Anteil an diesem Puzzle, das da entsteht und zu dem alle etwas beitragen.
Während viele nach und nach glücklich und erschöpft in ihre Einzel- und Ehebetten fallen und sich teilweise solidarisch Schlafanzug und Zahnbürsten teilen, harren manche aus bis ans Ende und begrüßen den neuen Tag.
Am nächsten Morgen grinsendes wieder erkennen. Wie schnell man als Gemeinschaft zusammenwächst! Wie gut das tut!
Gudrun gibt Einblick in ihre Situation und in den Prozess, in dem sie das Annehmen gelernt hat. Auch ihre mutige Ehrlichkeit und Tiefe rührt sehr an. Selbst in der großen Gruppe wird der Austausch sehr bewegend. So viele Tränen fließen - gute Tränen, heilende. Viel hat sich bewegt, viele sind bewegt, manches bricht auf, es gibt Begegnungen mit sich selbst, miteinander und mit Gott.
Hilde fühlte sich geborgen, Gabi geht zufriedener heim in ihre Situation, weiß jetzt, dass es anderen ähnlich geht, setzt weniger Erwartungen an sich und an andere. Brigitte wollte gar nicht her und wurde so reich beschenkt. Birgit meint: "Ich darf hier so sein, wie ich bin, nicht nur Mutter, einfach nur Birgit. Ich bin so vielen offenen, herzlichen Menschen begegnet, habe so viel Tiefe, Gemüt und Herz erlebt, was ich im alltäglichen Leben so vermisse." Immer mehr geben sich einen Ruck und etwas von ihren Gedanken und Gefühlen preis. Sabrina hat ein sehr spannendes Match mit Jesus gespielt und muss zugeben, dass er 1:0 gesiegt hat. Und weiß wieder einmal mehr, dass es keine Zufälle gibt.
Ich bin so gerührt, dass meine Tränen nicht mehr aufhören zu fließen. Was mich so packt, ist, dass ich erkenne, dass hinter jedem Gesicht, hinter jeder Frau ein Schicksal steht, dass wir nicht allein sind, sondern eine große Gemeinschaft, die miteinander auf dem Weg ist. Und welch ein Zeugnis jede einzelne Frau ist, die tapfer oder erschöpft weiter ihren Weg mit Jesus geht, auch wenn sie manchmal den Sinn von irgendwas nicht versteht und sich völlig kraftlos fühlt, die sich immer wieder die Kraft geben lässt, die reicht, um weiterzuleben.
Angefüllt bis an den Rand, froh, mitgegangen zu sein, lasse ich mich von meiner Familie abholen. Bin wieder bereit, mich ein Jahr lang auf sie einzulassen. 46 ausgepresste Zitronen waren angereist, müde, blass, kraftlos. Abgereist nach zwei Tagen vital, knallgelb, strahlend, im Glauben ermutigt, aufgetankt, voller neuer Ideen, voller Saft und Kraft ...
Ich werde zehren von diesen Tagen voller Augenblicke, von den Begegnungen, Impulsen, Worten, Freundlichkeiten, von dem Lachen und Weinen und all der Seelennahrung. Wir haben uns so viel zu geben. Jede jeder! Weibliche Impulse, Kreativität, Spontaneität und Gefühl.
Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen ...