Fromme Hausfrau - Interviews mit Bianka 



Krebs ...

Kategorie: FHF Interviews

Von: Bianka Bleier

Bianka Bleier über den plötzlichen Riss durch ihr Leben

8. Januar

Ich habe einen Knoten in der Schilddrüse, den ich mir entfernen lassen soll. Reine Vorsichtsmaßnahme. Habe gestern bei der Punktion einen Vorgeschmack bekommen. Der Internist hat mit einer langen Nadel Gewebe aus dem Knoten gezogen. Ich bin mir so ausgeliefert vorgekommen. Die OP nächste Woche steht am Horizont wie eine Schlechtwetterfront. Ich bin ein Angst-Reinsteigerer.


11. Januar

Beim Aufwachen mein erster Gedanke: OP. All mein Denken und Fühlen konzentriert sich darauf. Ich staune, dass sich meine Angst trotz der Unruhe in Grenzen hält. Habe den Verdacht, dass der eine oder andere für mich betet. Ich selbst ringe mit meinem Gebetsleben. Lese in Jakobus: "Das Gebet eines Frommen, der unbeirrt glaube, hat große Kraft". Da gehe ich zu Jan, meinem zwölfjährigen, behinderten Sohn und bitte ihn, für mich zu beten. Geehrt erfüllt er mir meinen Wunsch. Er vergisst nichts von dem, was mir wichtig ist und betet mit Vollmacht. Betroffen gehe ich aus dem Zimmer und denke, Jan ist mein Engel.

 

14. Januar

Alle Berge vor der OP bewältigt - der nächste ist die OP selbst. Ich fühle mich sehr hilflos. Als kleines Mädchen saß ich mal einen ganzen Tag auf dem Schoß meiner Mutter und weinte "Ich will nicht operiert werden!" Wem kann ich jetzt damit in den Ohren liegen? Es ist dieselbe Angst wie damals - die Angst vor dem Ausgeliefertsein. Nur dass ich mich heute selbst ausliefere. Das ist erwachsen sein.

 

15. Januar

Bis jetzt ist mir Jesus ganz nah, trotz des flauen Gefühls im Bauch. Als der Internist heute morgen anrief, dachte ich eine Sekunde lang "Krebs!". Aber er sagte: "Frau Bleier, es konnten keine bösartigen Zellen gefunden werden!" Halleluja! Das ist eine gute Nachricht, dann müssen sie nicht so radikal operieren. Ich wünsche mir, dass ich nicht in Panik gerate in den Stunden davor, und dass die Kinder nicht zu traurig sind.

Angela wünscht mir in einem Mail Philipper 4,6: "Macht euch keine Sorgen! Ihr dürft Gott um alles bitten. Sagt ihm, was euch fehlt und dankt ihm! Gott wird euch seinen Frieden schenken, den Frieden, der all unser Verstehen, all unsere Vernunft übersteigt." Das Wunder ist, dass ich diesen Frieden tatsächlich habe – damit habe ich nicht gerechnet! Ich weiß, dass viele für mich beten. Bin ich deshalb so ruhig?

Der Friede, der allen Verstand übersteigt, begleitet mich bis ins Stationszimmer. Jetzt ist das Krankenhaus plötzlich Realität. Der Arzt meint, zu 99,9 Prozent sei das etwas Harmloses, eine Zyste wahrscheinlich. Der charmante Anästhesist bescheinigt mir "Sie sind eine junge gesunde Frau!". Als ich nach dem letzten Spaziergang mit meinem Mann Werner zurückgehe, wird mir schwer ums Herz.

 

16. Januar

Ich bewahre diese übernatürliche Ruhe bis zur OP. Dass sie nicht aus mir kommt, weiß ich dankbar. "Es ist das Ausgeliefert-Sein, das Angst macht. Liefere dich, wenn die Angst hochsteigt, immer ganz bewusst Gott aus und du wirst voll Ruhe sein", schrieb mir Luise. Das tue ich jetzt, im OP-Saal liegend, mit grünem Tuch abgedeckt. "In 30 Sekunden werden Sie schlafen, Frau Bleier ..." ist meine letzte Erinnerung.

Auf meinem Zimmer bin ich erst wieder nach vielen Stunden. Aus meinem Hals kommen zwei Drainageschläuche statt nur einem. Ich registriere, dass das kein gutes Zeichen ist, schlafe aber den ganzen Tag. Nachts dagegen kann ich überhaupt nicht schlafen. Die Drainagen stören, die Wunde schmerzt stechend, und meine Nachbarin schnarcht.

 

17. Januar

Meine Stimme ist wieder da. "Wir mussten die ganze Schilddrüse entfernen" sagt der Arzt. Ich frage weiter, während ich schon verstehe: "Warum?" "Der Knoten war ein Karzinom. Wir konnten ihn vollständig entfernen, müssen jetzt das Ergebnis von der Pathologie abwarten. Danach besprechen wir das weitere Vorgehen, eventuell Entfernung von Lymphknoten und weiteren Zellherden, Radiojodtherapie. Aber machen Sie sich mal nicht allzu viele Gedanken, bei einer Skala von Null bis Zehn sind Sie ziemlich unten."

KREBS! Als ich zitternd im Bett liege und nicht denken geschweige denn beten kann, ruft Lou an. "Ich habe da einen Vers auf meinem Kalenderblatt, von dem ich mich frage, ob der vielleicht für dich ist, Bianka. Aber er erscheint mir gar nicht angemessen." Ich sage bebend: "Lou, mir geht es schlecht, ich habe Krebs, bitte lies ihn einfach!" Da liest sie aus Jesaja 35: "Stärkt die kraftlosen Hände! Lasst die zitternden Knie wieder fest werden! Sagt denen, die sich fürchten: Fasst neuen Mut! Habt keine Angst mehr, denn euer Gott ist bei euch. Gott selbst kommt, um euch zu helfen und euch zu befreien!" Darunter steht: "Hoffnung macht sich breit, wenn ich mich unter Tränen und Trauer dazu durchringe zu sagen: Gott ich versteh dich nicht, aber ich will dir vertrauen."

Ich bin fassungslos. Bevor ich in der Verzweiflung versinke, ist Gott da! Als Werner kommt, bringt er mir eine Karte von Jutta, auf der genau dieser Vers steht ...

Ich stehe an einem Scheidepunkt. Leben? Tod? Siechtum? Der Satz des Anästhesisten dröhnt in meinen Ohren: "Sie sind eine junge, gesunde Frau."

Immerhin hat Gott auf meine Stimmbandnerven aufgepasst. Ich kann schon super reden. Dafür kann ich umso schlechter beten. Ich wage nicht, um Heilung zu beten. Zu souverän scheint mir Gott, als dass er sich in seinem großen Plan von einem so unverfrorenen Gebet noch umlenken lassen könnte. Ich bin nicht blind. Ich übersehe nicht seine Liebesbeweise, aber auch nicht, was täglich auf der Welt passiert. Ich weiß, dass dennoch viele dafür beten und lasse mich in dieses Wissen fallen. Aber als ich schier verzweifle wegen der Schmerzen und der Aussicht, die Nacht halb sitzend zu verbringen, lege ich ein kleines "Vlies" aus, um zu spüren, ob Gott da ist. "Bitte Herr, lass mich schlafen heute Nacht, bitte nicht wieder so eine schlaflose Nacht!"

 

18. Januar

Ich habe eine ruhige, schmerzfreie Nacht hinter mir ... Gott, bist du da?

Aber heute morgen überrollt mich wieder die Angst, die Ungewissheit. Meinem Leben scheint der Boden weggezogen, alles, was galt, wankt. Hält mein Glaube? Was ist mit meiner Freude auf das Paradies angesichts einer schlechten Prognose? Realer Trost oder leere Schale? "O Jesus, bitte zeig deine Macht! Lass mich leben!"

Ich trauere um meine Schilddrüse. Es ist mir unheimlich, dass ich keine Schilddrüsenhormone mehr produziere und kein Kalzium. Beides werde ich lebenslang zuführen müssen. Wenn ich es nicht tue, sterbe ich. Seltsame neue Abhängigkeit.

Ich kann kaum beten, bin so verzagt. Das Leben ist so unerträglich kurz. Die Begegnung mit dem Tod wird kommen. Ich bin gleichzeitig froh darüber, dass ich an die Realität des Himmels glaube, und dass ich dort aufgenommen werde und es mir gut gehen wird für immer – und voller Angst darüber, dass das Tor so eng ist, der Weg so schwer. In mir schreit es: "Gott, wenn schon Tod, warum so widerwärtig grausam? Warum hast du es uns so schwer gemacht, von hier zu gehen?" Unglaublich, wie schnell alle Tore aus den Angeln geraten. Gott ist da, aber ich ringe sehr mit ihm. Wie lange noch? Ein Jahr? Zwei? Vier? Und wie wird die restliche Zeit aussehen? Werde ich je das Gefühl kennen, mein Leben "ausgelebt" zu haben?

Warum muss in alles Schöne wie ein Wermutstropfen die Trauer bereits eingewebt sein? "Wir sind nur Gast auf Erden ..." Was ist Glück? Sind es die Highlights des Lebens? Mein Glück ist mein ganz normaler Alltag. Arbeiten dürfen und ruhen, Gemeinschaft haben, helfen, lachen, weinen und wieder arbeiten. Oh, ich würde so gerne mal richtig weinen, aber es tut so weh im Hals. Und innen ...

Der Arzt, der mich operiert hat, kommt. Wie es mir geht. "Naja, ich habe Schmerzen und bin psychisch angeschlagen." Er setzt sich auf meine Bettkante. "Gegen die Schmerzen lassen Sie sich bitte etwas geben! Und lassen Sie mal die Dinge auf sich beruhen und warten Sie voller Mut ab." Auf Erlösung hoffend frage ich: "Muss ich mir nicht über Leben oder Tod Gedanken machen?" Er meint: "Es ist immer gut, sich mal mit Leben oder Tod zu beschäftigen – wissen Sie, ich bin überzeugter Christ!" Im selben Moment bekomme ich Boden unter die Füße ...

Mir fällt das Gebet einer Frau ein, die Jesus bat, alles für mich vorzubereiten. Ich sage: "Das bin ich ehrlich gesagt auch, aber alles ist plötzlich ganz anders, wenn es einem an den Kragen geht." Das sage ich wirklich. Der Arzt: "Es ist gut, dass der Knoten entdeckt wurde, Sie haben gute Heilungschancen. Aber ich möchte Sie nicht in falscher Sicherheit wiegen. Wenn das Ergebnis da ist, sehen wir weiter."

Freunde kommen und obwohl Tränen fließen, ist es arg hilfreich für mich. Wer hat schon Freunde, die mit einem reden, weinen und beten und auf diese Weise Zuspruch geben? Werner kommt mit den Kindern. Lena wirkt mitgenommen. Mit großen verschleierten Augen sitzt sie am Bettende, sieht mich schweigend an, weigert sich, zu mir zu kommen. Ich weiß, dass ihre Phantasie und ihre Angst größer und klarer ist als Annas. Die sitzt fröhlich plaudernd auf meinem Bett und hält die Moral der Truppe aufrecht. Jan kuschelt sich scheu zu mir. Dann bin ich wieder allein.

Ratlos, traurig und zermürbt. Wie lange schon nehme ich meine Kraft zusammen? Ich möchte gern den Himmel bestürmen, aber in mir sind nur tausend ungeweinte Tränen. Ich möchte gern auf einem guten, starken Schoß zusammenbrechen und weinen. Und dann soll alles gut sein. Wird Gott mich heilen? Will er es? Wird mir auch diese Geschichte zum Besten dienen? Wenn ich glaube, von Gott geliebt zu sein, dann kann ich auch glauben, dass er ausgerechnet zu mir gnädig sein will.

Werner kommt noch einmal, und das tut mir sehr gut. Er weint mit mir, redet mit mir, ich sage ihm all meine Ängste und Nöte, lasse mich fallen. Werner sagt: "Ich bin so sauer, dass dir das passiert ist, und weiß noch nicht einmal auf wen." Er hat so eine große Liebe zu mir.

Am Abend setzt plötzlich ein unangenehmer Reizhusten ein. Die Wunde schmerzt heftig dabei. Ich fühle mich wie ein verwundetes Reh, das sich ängstigt vor weiteren Verletzungen. In meiner Panik wage ich ein zweites "Vlies" ...

 

Sonntag, 19. Januar

Unglaublich, wie Gott mir Hoffnung macht! Der Husten hat aufgehört und ich konnte schlafen. Und heute morgen in der Bibellese: "Sie schrieen zum Herrn in ihrer Not, der rettete sie aus der Todesangst. Er sprach ein Wort, und sie waren geheilt." Gilt das mir, Bianka, seiner Tochter? Bin ich geheilt?

Ich weiß um mein Defizit in meinem Gebetsleben. Gottes Souveränität ist mir so groß, dass ich seine väterliche Barmherzigkeit kaum sehen kann. Ich weiß, dass das Äußerste geschehen kann. Warum sollte ausgerechnet ich verschont bleiben?

Ich kann nicht beten, aber das Wissen im Hinterkopf um Römer 8,26 - 30, bewirkt dass ich dennoch ruhig bleibe in Gott, dass ich bete ohne Worte. Wenn Gott mich liebt, dann muss seine Liebe auch halten, wenn ich sprachlos bin. Dann sieht er auch ohne meine Worte, was ich fühle und brauche. "Gott weiß was ihr braucht." Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes – auch keine Sprachlosigkeit und Angst vor seiner Größe.

Nichts von all meiner mitgebrachten Lektüre interessiert mich. Ich nehme Anrufe entgegen, dazwischen tue ich gar nichts. Wenn ein Gedanke kommt, halte ich ihn im immer aufgeschlagenen Tagebuch fest. Ich muss mich frei denken. Werner hält mich für eine Heldin. Ich halte mich für einen Schwächling. Ist Gott in meiner Schwachheit mächtig?

Sibylle schenkt mir eine Karte. "Was betrübst du dich, meine Seele, und stürmst so ruhelos in mir? Harre auf Gott!" Psalm 42. Ich lasse mich fallen in ihr Gebet, ich muss keine Gebetsleistung bringen vor Gott. Meine Freunde beten für mich.

Ich bekomme immer mehr Karten. Ich lese sie immer wieder. Es ist gut, dass die Geschwister nicht nachlassen, Verheißungen zuzusprechen, Glaube zu stärken, ich brauche das immer wieder. "Alles muss an Jesus vorbei" war so ein Satz heute. Es ist gut, dass sie anrufen und kommen, gegen alle Scheu und Unsicherheit. Gemeinschaft tut gut, lenkt ab, gibt mir wieder das Gefühl von Leben.

Wie gut ist die Operation verlaufen, wie treu war Gott da, schenkte mir Ruhe und Kraft, die Einsamkeit und das Ausgeliefertsein im OP auszuhalten. Wie gut habe ich die Narkose vertragen, ohne jede Übelkeit. Immer wieder denke ich voll Dankbarkeit an Jans Gebet.

 

20. Januar

Die Dämmerstunde ist die Zeit, wo ich mit Gott ringe. Ich denke so sehr an meine Mädchen. In meiner Verwirrung und Angst im Dunkeln bete ich: "Bitte, Vater schenk mir heute wieder ein Wort!" Zuversichtlich suche ich es nach dem Aufstehen in den Losungen. Da steht, dass ich gastfreundlich sein soll. Egal, der Tag ist lang, Gott wird mir schon ein Wort schenken. Dann kommt die Visite, heute mit dem Klinikchef: "Wie groß war der Knoten?". Anderthalb Zentimeter. "Und der Schilddrüsenlappen?" Entfernt. Er sieht mir in die Augen und sagt: "Das ist überstanden!" Ich bin wie vom Blitz getroffen. Mein Wort! Von mir fällt eine Last ab. Es ist, als hätte Gott selbst zu mir gesprochen. "Es ist vollbracht!" kommt mir in den Sinn.

Heute bitte ich weitere Freunde, für mich zu beten. Bin ich nicht dumm, wenn ich mich bescheide? Sehr dumm ... Die Gespräche mit Freunden sind lebensnotwendig für mich. Ich brauche Hilfe in meinem Kampf gegen die täglich aufwallende Angst.

 

21. Januar

Ab und zu kommen mir grundsätzliche Zweifel, ob mein Glaube ein großer Irrtum ist, ob es diesen unsichtbaren Schöpfer wirklich gibt, der sich für mich interessiert und der eingreift in meine Geschichte – aber unterm Strich sagt meine Erfahrung klar ja.

Am Anfang war das Wort – jeder Tag hier ist geprägt durch Gottes Wesenheit, Wort zu sein. Das Medium, das wie kein anderes meines ist, es erreicht mich durch Karten, Briefe, Telefonate, Bibelverse, Losungssprüche – Gott spricht in meiner Sprache zu mir und erreicht mich damit ganzheitlich, erschüttert immer wieder mein Herz. Das macht, dass ich mich nie allein fühle.

Ich bin jetzt jeden Morgen gespannt auf die Tageslosung und den Bibellesetext. Es ist schier unglaublich, wie Gott durch sein Wort in mein Hier und Heute spricht. Heute lautete der erste Satz: "Ich will sie trösten und erfreuen nach ihrer Betrübnis" (Jeremia 31,13). Und weiter geht es mit Jesu Frage an die zwei Blinden: "Was wollt ihr, dass ich für euch tun soll?" Das fragt er heute auch mich, und ich staune, dass es für mich nicht einfach ist, ihm meinen innigsten Wunsch zu nennen, am Leben zu bleiben und wieder gesund zu werden - aus Angst vor Enttäuschung. Herr, Vater, Papa, hier ist deine Tochter. Es ist ein Prozess, anzukommen bei meinem Vater, in seinem Schoß. Kampf von Kopf und Herz. Langsam tritt Gottes Barmherzigkeit aus dem Schatten seiner Souveränität heraus.

Es wird nie mehr sein wie es einmal war – aber es kann wieder gut werden. Ich beginne, den Ärzten zu vertrauen, ich lausche auf Gott und taste nach dem Weg und seiner Hand.

Der Befund ist da: Ein Karzinom von 1,5 cm Durchmesser, mit der Entfernung der Schilddrüse aus chirurgischer Sicht ausreichend behandelt. Das Abschlussgespräch findet übermorgen statt, morgen werde ich beurlaubt.

 

23. Januar

Jetzt macht sich Freude in mir breit. Ich habe mich nicht gewundert über ihr Ausbleiben, ich kenne das Phänomen, wenn Entwarnung nach großer Anspannung kommt, dass erst die Lähmung vorübergehen muss, die alten Gefühle nur langsam neuen Platz machen.

Neun Tage Warten auf den Befund. Neun Tage Zeit zum Nachdenken - ich habe jeden einzelnen gebraucht. Ich fühle mich auf einmal schwach und kraftlos. Nun, als alles sich zum Guten zu wenden scheint, öffnen sich die Schleusen. Der Schock löst sich, Angst ist da vor Metastasen, Therapien, dem Strahlenschutzbunker.

Als Werner mich abholt, hält er statt einer jubelnden eine aufgewühlte, zerknitterte Frau im Arm. Er tröstet mich: "Deine Seele muss erst nachkommen, das ging alles zu schnell!" Ich fühle mich geschlagen und kann nichts von Gott hören, ohne zu weinen. Ich fühle mich wie eine große Wunde. Er hat mich geschlagen, er soll mich auch wieder heil machen. An Leib und Seele.

Körperlich geht es mir täglich besser. Jede Nacht bringt Heilung. Abends informiere ich mich stundenlang im Internet über meinen Tumor - und bekomme wieder Angst. Wieso sollte alles schon ausgestanden sein? Was, wenn die Lymphknoten befallen sind? Völlig erschöpft weine ich mich in Werners starken Armen in den Schlaf.

 

24. Januar

Nach der irritierenden Sucherei im Internet sehne ich mich nach einem Arzt, dem ich mich die kommenden Jahre anvertrauen kann. Während ich zwei Stunden lang in einem altmodischen Korridor im Keller der Radiologie warte, schrumpft mein Vertrauen gegen Null. Die Gesichter um mich herum wirken abgestumpft. Ein Klima der Resignation hängt in der Luft. Als der Arzt mich reinholt, jubelt er, welch gute Prognose ich habe, welch ein Glück ich gehabt hätte. Er stuft den Tumor als rechtzeitig entdeckt und endgültig behandelt ein und gibt vollständige Entwarnung! Geheilt! Keine Therapie. Keine weitere Untersuchung ...

Nachdem ich dreimal irritiert nachgehakt habe ("Im Internet stand, dass alle Kliniken eine Radiojodtherapie anschließen an ein Karzinom meiner Größe"), vertraue ich ihm. Hat Gott unsere Erwartungen noch überschritten? "Das war ein absoluter Zufallsbefund, glücklicher hätte das Unglück nicht laufen können!" Ich darf gehen. In mir schwillt stakkatoähnlich Händels Halleluja an. Als wir aus dem Keller ins Freie treten, habe ich das Gefühl, der Frühling beginnt. Alles ist anders als heute morgen. Das ist Gnade. Barabas-Gnade.

Ein Kinderlied setzt sich in meinen Kopf: "Wiedergeboren zu neuem Leben ..." Blumen will ich haben. Immer wieder will ich mir Blumen schenken. Tulpen vom Aldi. Rosen vom Lidl.

Die Mädchen sind total ausgeglichen. Werner schläft wie ein Bär auf dem Sofa. Vati macht Krimsekt auf und schenkt mir Tulpen. Abends kommen Freunde mit Fertigpizza und Rotwein und wir feiern ein Auferstehungsfest. Lachen, Weinen, Danken - das Leben hat mich wieder.

 

25. Januar

Den ganzen Morgen Jubel. Endlich kann ich mich so richtig fallen lassen in die Freude der anderen. Mitten hinein ein Anruf vom Radiologen. "Ich habe einen Fehler gemacht, Frau Bleier. Ich habe mir Ihre Unterlagen mit nach Hause genommen und in Ruhe noch einmal durchgelesen. Internet war das Stichwort ... Ich habe mich verlesen, habe Zentimeter und Millimeter verwechselt. Ich dachte, Sie hätten ein Mikrokarzinom. Das ist nicht weiter schlimm für Sie - aber wir sollten nun doch die Therapie machen, es tut mir sehr leid!"

Ich stürze ab. Ich habe nur ein dünnes Fell über meiner Wunde. Ich laufe mit zitternden Knien durch die Wohnung. Verzweifelt gehe ich ins Wohnzimmer. Anna hat beim Fensterputzen eine CD von Pro Joe eingelegt. Ich bin todtraurig, durcheinander, schockiert. Lena sagt vorsichtig: "Das ist jetzt komische Musik für dich, oder?" Ich konzentriere mich darauf, was er singt. "Stärket die schlaffen Hände und befestiget die wankenden Knie! Saget zu denen, welche zaghaften Herzens sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Siehe, euer Gott kommt. Er selbst kommt und wird euch retten."

Jesaja 35! Das sind dieselben Zeilen, die mir Lou nach der Diagnose vorgelesen hatte! Wieder - noch bevor ich an Gott denke, wartet er schon im Wohnzimmer auf mich. Fassungslos weine ich, zutiefst getroffen von Gottes Barmherzigkeit und Lebendigkeit!

 

Sonntag, 26. Januar

In der Gemeinde tränenreiche, vorsichtige, zerquetschende Umarmungen, ein einziges nach Hause kommen. Wir essen zu zweit beim Italiener. Werner umhüllt mich mit Liebe, und ich lasse mich hineinfallen. Wir verbringen einen gemütlichen Mittag auf dem Sofa vor dem Feuer, später lese ich. Ich kann wieder lesen! Die schönsten Minuten des Tages: Werner legt kubanische Musik auf und tanzt zärtlich mit mir.

 

27. Januar

"Wenn ich mir ein Karzinom aussuchen müsste, dann würde ich mir genau Ihres aussuchen" sagt mein Internist. "Wenn Sie noch zwei Jahre gewartet hätten, wären vielleicht Metastasen da gewesen". Ich bin - außer dass ich mich irgendwie wund und geschlagen fühle - glücklich, was sich irgendwie anfühlt wie eine stille Ruhe, eine Dankbarkeit, die langsam von innen nach außen dringt.

 

31. Januar

Ich liebe meinen langsam erwachenden Alltag so. Ich kuschle mit Werner, wir reden ein wenig oder beten. Ich stehe zuerst auf, richte die Schulbrote für die Kids. Alles regt sich. Kurz danach bin ich allein. Zeit zum Nachdenken, Tagebuch schreiben, Lesen, Beten. Zeit zum Danken.

 

3. Februar

Ich könnte eigentlich glücklich sein, denke auch immer "eigentlich bin ich glücklich" - aber ich fühle es nicht mehr. Dennoch ist Gott da, das ist eine Erfahrung. Er ist sehr treu und stark. Sehr real. Vielleicht ist die Abwesenheit von Panik ja schon Glück. Vielleicht kann ich mir nur wegen der guten Prognose den Luxus leisten, mich in diese Tiefen fallen zu lassen.

Wie geht es mir also? Froh, daheim zu sein. Dankbar um alles, was ich habe und Verlustangst, alles wieder hergeben zu müssen. Nähe zu Gott und unwahrscheinlichen Respekt vor ihm.

Wieder lebe ich auf einen Termin zu, auf die Radiojodtherapie. Ich fühle mich krank, mental noch mehr als körperlich. Werner baut mich immer wieder auf. Er lenkt mich ab, hält mir den Rücken frei. Der Gipfel an Fürsorglichkeit ist, wenn er spürt, dass ich nicht schlafen kann und fragt: "Sollen wir beten?" Dann nimmt er mich fest in den Arm und betet für mich, und ich weine die ganze Zeit, und er hört nicht auf, vor Gott für mich einzustehen.

 

7. Februar

Das ist schon eine Erschütterung der Grundfeste, dass sich etwas Bösartiges im "Tempel" zusammenbraut, während man ihn noch längst für rein hielt. Trotz positiver Lebenseinstellung, gesunder Eltern, Hundespaziergänge und Vollkornbrot ...

 

9. Februar

Was tun? Ich bin versucht, noch intensiver leben zu wollen. Wo kann ich mein Leben entschleunigen? Soll ich einfach so weiter leben als wäre nichts geschehen? Ich habe Angst, in den alten Trott zu fallen. Ich möchte nicht mehr diese Atemlosigkeit. Wie geht das, für sich Sorge tragen? Wo Abstriche machen, wenn das Leben zu voll ist?

 

11. Februar

Hin und wieder gruselt mich der Abgrund, an dem ich stand, und manchmal frage ich mich, ob es nicht vermessen ist, zu glauben, dass es wirklich überstanden sein könnte nach dieser Therapie. Dann wieder bin ich überwältigt davon, wie Gott mich geschützt hat vor diesem Tumor durch die Umstände, wie er entdeckt und entfernt wurde.

 

17. Februar

Samstag beim Frühstück: Werner hat schon den Ofen angemacht, als ich komme. Es prasselt ein herrliches Männerfeuer. Ich decke den Frühstückstisch. Mein Blick fällt auf meine Lieblingskommode, sorgfältig Ton in Ton dekoriert. Zwischen den Dingen liegen jetzt Ölanzünder, Streichhölzer, die Schublade steht offen, eine Kunststoffschachtel ragt hervor. All das zerstört die Harmonie und verärgert mich. Bin ich denn immer für das Hinterherräumen zuständig? Wie viel weniger Arbeit hätte ich, wenn jeder das selbst erledigen würde! Ich werde das jetzt sagen, ich möchte so nicht mehr weiter machen. Ich öffne den Mund - und treffe beim Luftholen eine andere Entscheidung.

"Es ist so gemütlich, dass du den Ofen schon angemacht hast!" höre ich mich zu meinem Erstaunen sagen. Und denke plötzlich: Was soll es eigentlich? Er holt Holz rein und trägt die Asche raus, er schichtet und zündet an, und ich räume die paar Utensilien weg. Teamwork! Wir haben gemeinsam für das Feuer gesorgt. Ich bin plötzlich sehr zufrieden mit dieser Wende und habe den Eindruck, dass sie eine grundsätzliche war. Peanuts ...

Morgen in der  Abschlussuntersuchung wird man mich nach restlichen Schilddrüsenzellen und Metastasen durchchecken .

 

18. Februar

Im Szintigramm werden 5 ml Schilddrüsenrestgewebe festgestellt, eine "doch relativ erhebliche Restmenge", die zwar nicht operiert werden muss, aber durch eine hohe Strahlendosis vernichtet werden soll. Fünf Tage "Isolationshaft" im Strahlenschutzbunker. Ich bereite mich den ganzen Tag mental darauf vor.

 

19. Februar

Mögliche Nebenwirkungen: Gastritis, bleibende Mundtrockenheit, Speicheldrüsenentzündung. Die Ärztin: "Das nimmt man in Kauf!" Ich habe Angst vor dieser unheimlichen Kapsel. Mein ganzes Leben ist so durchgerüttelt ...

 

24. Februar

Wieder daheim. Körperlich geht es mir nicht besonders, die Therapie war anstrengend. Ich war wohl noch nie im Leben so krank wie jetzt. Mein Kopf versucht das zu begreifen. Ich lese den Beipackzettel des Medikamentes, von dem ab jetzt mein Überleben abhängt. Die Autarkie meines Lebens ist verloren gegangen. Aber: Hatte ich sie denn je? Hängt nicht seit jeher mein Leben von Gottes täglichem Willen ab?

 

7. März

Ich bin nicht mehr dieselbe. Eine Freundin meinte neulich ermunternd: "Wenn du erst einmal wieder hormonell eingestellt bist, wirst du schnell wieder Bianka sein." Das hat mich erschüttert. Bin ich jetzt nicht Bianka? Ist Bianka nur immer stark, fröhlich und leistungsfähig? Ich weiß schon, wie sie es gemeint hat, aber mir wird klar, welch ein Riss durch mein Leben gegangen ist, und dass ich verändert daraus hervorgehe.

Ich habe Wegweisendes mit Gott erlebt, aber es hat ziemlich weh getan. Und Mut gemacht. Und Angst. Und Glück. Oje ...