Fromme Hausfrau - Artikel von Bianka - Family - Beiträge aus BBs Notizen 

Rote Kringel Methode

Kategorie: FHF BBs Notizen

 

Ich lese eine Uraltausgabe der Zeitschrift Aufatmen. Ein Autor wird gefragt, was er tun würde, wenn er wüsste, dass er nur noch ein Jahr zu leben hätte. Die Frage ist so alt wie simpel, logisch und überaus klärend noch dazu. Die Antworten ähneln sich meistens. Was auf universale Weisheiten schließen lässt. Vor acht Jahren sagte darauf Martin Bühlmann: „Ich würde mir mal aufschreiben, was ich alles essen mag. Dann würde ich einige schöne Orte besuchen. Ich würde meine Beziehungen viel intensiver leben, z.B. mit meiner Frau, ja der ganzen Familie und meinen Freunden.“ Während er so denkt, kommt ihm ein Geistesblitz: „ Mensch, ... das kann ich doch alles auch tun, wenn ich noch länger zu leben habe!“ 

Die Übung, aufzuschreiben, was ich mag, habe ich schon mit Vergnügen gemacht. Nun kommt mir die Idee, mal aufzuschreiben, was ich alles NICHT mag. Wäre vielleicht auch ein schöner Programmpunkt für die nächste Silvesterfeier. 

Ich mag es nicht, eine Verabredung abzusagen.

Ich mag es nicht, wenn mehrere Leute gleichzeitig etwas von mir wollen.

Ich mag es nicht, dass unsere Stallhasen so eingesperrt leben.

Ich mag es nicht, allein für die Weihnachtsgeschenke verantwortlich zu sein.

Ich mag nicht das Kribbeln im Bauch vom vielen Rumsitzen in beheizten Räumen an kurzen Wintertagen.

Ich mag es nicht, dass es so viele unterschiedliche Meinungen in der Gemeinde gibt zu etwas, wozu ich nur eine habe...

Ich mag die allerwenigsten Fernsehsendungen und wenn es nach mir ginge, bliebe der Fernseher aus.

Ich mag es nicht, wenn Werner ihn ungefragt anschaltet, wenn ich im Wohnzimmer sitze.

Ich mag keine weiten Autobahnfahrten, weil ich immer die Orientierung verliere.

Ich mag es überhaupt nicht, wenn Kleidung kneift.

Ich mag es nicht, wenn Kunden in der Buchhandlung mich wie Untertanen behandeln.

Ich mag es nicht, wenn ich die Folgen meiner Unstrukturiertheit zu spüren bekomme und andere noch dazu. Wenn ich z.B. erst anfange zu kochen, wenn der erste hungrige Mensch heimkommt.

Ich mag nicht, wenn mich jemand beim Schreiben unterbricht, wenn es gerade läuft.

Ich mag es nicht, wenn Männer heimlich doch nicht im Sitzen pinkeln...

Ich mag es nicht, wenn ich jeden Tag Termine habe.

Ich mag es überhaupt nicht, mich um Schriftkram und Finanzen zu kümmern.

Ich mag es nicht, wenn Wäsche eingeht und nicht mehr passt.

Ich mag es nicht, wenn man mich missversteht.

Ich mag es nicht, wenn ich endlich Zeit hätte, etwas Sinnvolles zu tun und dann nichts mit mir anzufangen weiß… 

Die Übung ist nett, aber unproduktiv. Ich stelle eine neue Frage: Was brauche ich?
Mir fällt viel ein. Unter anderem Folgendes: 

Ich brauche ein paar Menschen um mich herum, bei denen ich mich fallen lassen kann, die mich in meiner Schwachheit annehmen, ohne dass ich mich übermäßig schämen muss. Mit denen ich herzhaft lachen kann. Vor denen ich mich nicht verstellen will. Wo ich keine Rolle zu spielen brauche und ich beim Gedanken an sie entspannt seufzen kann: Gut dass wir einander haben.  

Feierabend. Heute habe ich mich zum hundertsten Mal auf deutschen Autobahnen verfahren. Kunde König war wieder im Laden. Es ist noch helllichter Tag und bereits dunkel. Lena hat mich vom PC vertrieben, weil sie etwas Wichtiges im Buschfunk verfolgen muss. Dabei lief es gerade so gut. Meine  Hose zwickt, weil eingegangen. Ich sitze sinnlos im Wohnzimmer herum. In meinem Bauch kribbelt es. Werner kommt und macht den Fernseher an.  

So. Nun habe ich die Wahl: Implodieren? Explodieren? Resignieren? Wie war das noch mal, was würde man gern tun, wenn man nur noch ein Jahr… Vielleicht würde man so einen Tag dann in völlig anderem Licht sehen?

Es läuft eine Talkshow. Eine illustre Runde von Kabarettisten. Ich setze mich senkrecht, als einer erzählt, dass er neuerdings sein Leben nach der „Rote Kringel Methode“ gewichtet: Adressbuch raus, rote Kringel machen um die Menschen, mit denen man lachen, weinen und schweigen kann. Mit denen immer wieder Termine ausmachen. Er beobachte, dass Menschen, die nur noch begrenzte Zeit zu leben haben, genau das nur noch tun… Davon könnten wir lernen, denn wir hätten alle nur noch begrenzte Zeit zu leben, wenn wir ehrlich seien… 

"Wenn ich mein Leben noch einmal
leben könnte,
im nächsten Leben, würde ich versuchen,
mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter,
als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens
fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente
der Freude, aber wenn ich noch
einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen,
nur mehr Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben;
Nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn
an bis in den Spätherbst hinein
barfuss gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie... ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde."