Der kleine Prinz
Jan hat Prozentrechnen als Hausaufgabe. Ich kann ihm nicht helfen, ich habe das nie wirklich gelernt – weder im Gymnasium noch im richtigen Leben. Er freut sich darüber, dass ich auch etwas nicht kann und wartet auf Werner. Dem läuft er beharrlich ab Feierabend mit dem Matheheft hinterher, bis Werner sich erbarmt. Prozentrechnen ist mehr als mühsam für Jan, aber nicht gänzlich unvorstellbar. Also trainieren sie die grauen Zellen. Ich höre, wie Werner fragt: „Jan, fünfzig Prozent ist wie viel?“ Jan: „Ein halb.“ Werner: „Und du bist 100 Prozent toll!“ Danach bin ich dran. Jan muss eine Charakterisierung schreiben. Thema: „Ein Mensch der mir viel bedeutet“. Er nimmt sich einen Freund der Familie vor. Er schreibt:
„Ich beschreibe Fabian Schimmel. Fabian ist 18Jahre alt. ER ist ein Freund von meiner Schwester. Fabian ist noch Schüler.Er hat blonde locken, zieht gerne modische Kleider an und hat immer Gel in den Haaren. Fabian ist Christ. ER mag keine Gewalt. Fabian ist fleißig das heißt das er mehr macht als er soll z.b. das er noch an der Holzindustrie arbeitet und noch für meine Schwester da ist. ER ist ordentlich z.B. das er sein Zimmer oft aufräumt. Fabian ist großzügig , weil er allen was abgibt wenn er was hat.Er ist zuverlässig z.b. wenn er einen Termin Hat das er da auch hingeht. ER ist spielfreudig das heißt das er gerne spielt das er mit mir oft spielt. ER hat zwei mal in der Woche Gitarre Unterricht. Fabian macht Jugendarbeit mit meiner Schwester bei unserer Gemeinde. Ich finde ihn toll.“
Seine Lehrerin schreibt darunter: „Dein Schlusssatz ist etwas kurz, aber sicher sehr zutreffend und er passt zu dir. Du nennst viele positive Charaktereigenschaften. Hat der Freund deiner Schwester gar keine negative Charaktereigenschaft?“
Der Freund von Jans Schwester stellt berührt fest, dass noch nie im ganzen Leben jemand so positiv über ihn gesprochen hat. Keine negative Charaktereigenschaft … Da fällt mir auf, dass ich Jan noch nie negativ über einen Menschen urteilen gehört habe. Vielleicht fehlt ihm das betreffende Gen. Aber wahrscheinlicher ist, dass er ein zusätzliches Gen hat, ein himmlisches. In der Tag kann Jan weder kritisch urteilen noch raffiniert denken, auf seinen eigenen Vorteil achten, schwindeln, lügen oder lästern. Er ärgert sich nie über einen Menschen. Er erkennt tatsächlich nicht das Negative an anderen. Welch wertvolle Gabe! Ich nenne sie das „Kleine Prinz Gen“.
Jan ist sanft, arglos, lieb, ehrlich und freundlich. Welch ein Geschenk außer der Norm, das muss man erst mal begreifen, was Gott uns da für einen Schatz gegeben hat! Wenn wir alle so miteinander umgingen, unvorstellbar, wie heiter und wie viel heiler unsere Welt da wäre.
Jan beginnt ein Praktikum in der Nachbarstadt. Er soll lernen, den Weg selbstständig mit dem Fahrrad zu bewältigen. Ein hoch gestecktes Ziel. Er braucht Unterstützung. Also raus in die stürmische Witterung, die sich Sommer nennt. Ich nehme den Hund mit, damit das auch erledigt ist. Bei Nieselregen fahren wir los. Nach der ersten Kurve fängt es an zu regnen. Außerhalb des Ortes bläst uns ein rauer Wind ins Gesicht. Mühsam kämpfen wir uns durch Nässe und Gegenwind. Jan voraus. Der Hund läuft mal links, mal rechts von ihm. Aufmerksam sieht er immer wieder zu Jan hoch, passt sich seiner Geschwindigkeit an, seinen unsicheren Kurven, achtet auf jede Bewegung seines großen Freundes. Es ist mehr als rührend, wie er auf Jan aufpasst. Plötzlich fallen alle Sorgen von mir ab. Nando wird mir zum Bild für Jans Engel, der nicht von dessen Seite weicht, seit 18 Jahren nicht. Während er sich bemühen wird, die fremden Erwachsenen zu verstehen, sich ihnen verständlich zu machen, seine Arbeit zu erledigen mit zwei linken Händen - der Engel wird an seiner Seite sein. Gott selbst ist da. Wenn sein kleiner Prinz schon so liebevoll auf seine Mitmenschen blickt, wie sehr mag wohl erst das Urteil des Königs von Wohlwollen geprägt sein!