Fromme Hausfrau - Artikel von Bianka - Family - Beiträge aus BBs Notizen 

Überraschungseier

Kategorie: FHF BBs Notizen

Von: family 01/08

Anna hat Spätschicht. Sie zieht sich ein dickes Fell über für den Novemberwind. Als sie so im Begriff ist zu gehen, zappt mein Gehirn auf ein früheres Programm und ich habe plötzlich lebhaft Klein-Anna vor Augen, als sie zum ersten Mal von mir wegging. Es war im Freibad und gehen konnte man das noch gar nicht nennen. Aber sobald Anna robben konnte, hat sie sich von mir entfernt, mit großer innerer Freiheit und Leichtigkeit. Neugierig auf das Leben, still und vergnügt. Damals ist sie nur drei Decken weiter gekrabbelt, aber weil ich es nicht erwartet hatte, war ich etwas bestürzt, sie so fröhlich in sich ruhend auf fremdem Terrain wieder zu finden. So ging das dann weiter, ich sehe Anna auf unserem ersten Campingurlaub zu dritt auf einem hügeligen Campingplatz in der Bretagne von uns gehen – wieder ist gehen nicht der richtige Ausdruck, sie rannte! Mit ihrem rosaroten Kleidchen und ihren goldenen Löckchen sahen wir sie rennen, sobald wir uns umdrehten – ein leichtfüßiger, unbekümmerter, erwartungsvoller kleiner Schatz. Das Leben war wundervoll, an jeder Ecke wartete eine Überraschung und Papa und Mama wachten über sie. Die sechsjährige Anna, mittlerweile mit einer angelernten Scheu Erwachsenen gegenüber, die bei der Einschulung ihren Namen hörte und gehorsam aufstand, sich aus den familiären Reihen löste und todesmutig nach vorne ging, hinein ins Schulleben. Den elterlichen Segen hinter sich.
Lena war anders. Sie achtete immer darauf, dass ich mich nicht von ihr entfernte. Wo Lena war, war ich - oder wir hörten sie nach mir schreien. Mit erdiger Beständigkeit und großer Sehnsucht. Auch schön. Beides hat seine Licht- und Schattenseiten, meint Anna, als ich ihr meine nostalgischen Gedanken mit auf den Weg gebe, während sie ihre überaus kreative Herbstkollektion anzieht. Erinnern kann sie sich an nichts und das ist komisch für mich, dass ich ihre Erinnerungen in mir aufbewahre. Ich kenne Annas Wurzeln und sollte sie lebendig halten, denn sie sind ein Teil von ihr. Neuerdings fragt sie mich manchmal nach ihrer Uroma, von der sie ihren Namen hat. Ich hätte mir kein besseres Oma-Andenken schaffen können … Und nun ist Anna auch noch in gewisser Weise ihrer Urgroßmutter ähnlich geraten, was mich entzückt und sie neugierig macht. „Wie war denn die Frau, die mir ihren Namen geliehen hat?“ Ja, wie war sie denn? Groß. Kräftig. Weich. Kittelschürzig. Kriegsgeschädigt und überlebenstüchtig. Großzügige Beterin und Spenderin. Tapfere Witwe von vier Mädchen. Schwiegerelternpflegerin. Köchin aus Leidenschaft für alle Familienfeste im Ort. Bekannt für ihr ansteckendes Gelächter. Sehr praktisch. Sehr gesellig. Sie hatte den Glauben einer bretonischen Bäuerin, nicht nur darin ähnelt ihr meine Tochter.
Anna zieht ab. Den Kindern Flügel geben, wenn sie groß sind und Wurzeln, wenn sie klein sind - mein Leitbild über zwei Jahrzehnte „Abenteuer Kind“. Ich bin dankbar um dieses Bild, es hat mir mehr geholfen als manche Ratschläge. Früh habe ich im Austausch mit anderen Müttern eine Entscheidung getroffen, die ich im nachhinein als Wegweiser für unser heutiges Miteinander empfinde: Ich wollte nicht der Töpfer sein, der den Ton nach seinen Vorstellungen formt. Viel lieber wollte ich zusehen, was der Schöpfer in diese Kokons gepackt hatte, gespannt, was sich da vor meinen Augen entfalten würde. Anregen und fördern wollte ich, stärken und herausfordern, aber nicht formen und gestalten, Entwicklungen vorgeben und Hoffnungen hineinlegen, nicht die Kinder verantwortlich machen für meine Zufriedenheit, für mein Selbstwertgefühl, für meine Erfüllung, für meine Kindheitsträume, meine unterfüllten Wünsche. Heraus schlüpften drei völlig unterschiedliche Individuen, die mir etwas mitgebracht haben für mein Leben, jeder etwas anderes.
Bevor ich Kinder hatte, dachte ich, dass es ziemlich cool wäre, wenn ich ein Mädchen bekäme wie Lotta aus Bullerbü. Dunkelhaarig, latzhosig, rotwangig, abenteuerlustig. Ich konnte mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen dass es auch andere Kinder gab. Bis Anna kam. Sie war blond, zart, liebte Puppen und Rüschchen und war zwar freiheitsliebend, aber nicht draufgängerisch. Nun glaubte ich zu wissen wie Mädchen sind. Bis Lena kam. Latzhosenträgerin aus Leidenschaft, anhänglicher als Anna, aber aus der Sicherheit heraus sehr abenteuerlustig. Burschikoser.
Ich liebe Musik und bedauere, dass ich kein Instrument spielen kann. Als Anna nach der Flöte griff, erwachte eine leise Hoffnung in mir. Musikalische Kinder, au ja! Sie legte sie nach einem Jahr wieder weg, griff zum Klavier, um auch das einzustellen. Wir ließen sie gewähren. Lena lernte Klarinette und Saxophon mit passablem Ergebnis, aber eine Musikerin ist sie noch nicht geworden. Anna tat sich leicht mit dem Lernen - in der Grundschule. Vielleicht hatten wir eine intellektuelle Tochter? Aber dann stellte sich Schule doch nicht als ihre erste Leidenschaft heraus. Wer war Anna? Ich begleitete, beobachtete, wartete. Sie begann zu reiten, verwirklichte meinen Lebenstraum, zu dem ich zu feige war, mit Kraft und Mut, steckte die halbe Familie mit dem Pferdevirus an. Sie überraschte mich damit, dass sie mich rechts überholte, was Kreativität und Freude am Kochen und Backen betrifft.
Lena spielt gern Theater, ziemlich talentiert. Eine Schauspielerin!? Aber sie widmet dieser Begabung wenig Gelegenheiten, weil sie lieber Damenfußball spielt (Sportlerin?) und sich konsequent den Schulweg nach oben erkämpft. Sie plant, nach dem Abitur als Au Pair nach Amerika zu fliegen. Präsidentin der Vereinigten Staaten?! 

Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren. Maria Montessori