Fromme Hausfrau - Artikel von Bianka - Family - Beiträge aus BBs Notizen 

Mein letzter Wille - lass mich los!

Kategorie: FHF BBs Notizen

Von: family 05/08

Anna ist bereit zu gehen. Ihre letzte Zeit bei uns gleicht einem Leben in der Warteschleife. Geduldig harrt sie auf ihr richtiges Leben, wo sie endlich selbst loslegen kann. 22 Jahre hat der Vogel im Nest verbracht, nun will er fliegen. Die Zeit ist reif. Und ich hatte Zeit genug, mich darauf vorzubereiten. Ich weiß was meine Aufgabe ist. Loslassen, loslassen, loslassen. Nun erlebe ich Ablösung zwischen Mutter und Tochter von der anderen Seite, sehe meine eigene Abnabelung mit neuen Augen… 

Anna sieht sich unsere Hochzeitsbilder an. Empört meint sie: „Das will ich aber nicht so wie ihr! Ihr seid ja voraus gelaufen und alle hinterher!“ Ich: „Du willst doch nicht etwa die Hollywoodvariante ‚Brautvater bringt Braut zum Bräutigam vor’ haben??“ „Genau!“ meint Anna vergnügt. Ich sehe mich einsam, verstört und nutzlos in der ersten Reihe sitzen und frage empört: „Und was macht die Brautmutter in der Zeit?“ Anna wie aus der Pistole geschossen: „Heulen natürlich!“ Damit wäre mein Part ja ausreichend abgesteckt… 

Abends spielen wir mit Jan eines dieser Schlaumeierspiele. Werner fragt: „Welches Tier in der Vogelhochzeit heult beim Abschied?“ Seither geht mir der Liedvers nicht mehr aus dem Kopf: „Brautmutter war die Eule, nimmt Abschied mit Geheule! Fidiralala, fidiralala, fidiralalalala!“ Die Liedtexter von früher, die hatten schon Nerven, aber sie trafen auch den Nerv, meine Güte …  

Alles dreht sich ums Heiraten. Eine Wohnung wird gefunden, brautmutterschonenderweise im selben Ort. Anna vermacht uns ihr avantgardistisches Metallbett. Wir werden es unter der Pergola im Freien aufstellen, wollten schon immer im Garten eine Schlafstätte haben. In der Nacht vor ihrem Auszug stehe ich zum letzten Mal an dem Bett meiner schlafenden Tochter. Wie viele Jahre habe ich sie so angesehen… Abschied.

Am nächsten Morgen holen wir sie noch einmal ins „Gräbchen“ unseres Ehebetts. Wir lachen und scherzen über Annas Wandeln an des Brautvaters Seite zum Bräutigam vor. Werner überlegt, unterwegs einfach umzudrehen oder sie diesem zumindest mit einer einschüchternden Drohgebärde zu übergeben.

Dann nimmt der lang erwartete Tag seinen Lauf. Entgegen meiner Befürchtungen, meinen Emotionen nicht gewachsen zu sein, bin ich friedlich und heiter. Ich möchte jedem Menschen zurufen: „Meine Tochter heiratet!!“ Anna ist eine wunderschöne Braut, ich sehe noch das Mädchen in ihr, das ich geboren und groß geliebt habe, und ich sehe die eigenständige Frau, so glücklich, so geliebt, was kann ich ihr Schöneres wünschen. Ich denke oft an mein eigenes Glück zurück an diesem geschichtsträchtigen Tag, fühle eine neue Verbundenheit mit Anna. 

Werner übersteht den Gang nach vorne ohne zu stolpern, ich überstehe den symbolträchtigen Anblick, ohne in Tränen auszubrechen. Ich sehe, wie der Brautvater Annas Hand loslässt, der Bräutigam sie ergreift und festhält. Sie lächelt unentwegt. Es wird ein wunderschöner Tag und meine Seele bleibt von vorn bis hinten eingehüllt in einen Schutzmantel des Friedens. Ist es zu fassen? Braucht es noch mehr Erklärungen für Gottes Anwesenheit und Güte?  

Als jemand „Loslassen“ ruft und hundert rote Luftballons in die Luft steigen, lamentiere ich: „Ich kann das Wort nicht mehr hören!“. Plötzlich verstehe ich meine Aversion dagegen. Was ich loslasse, habe ich nicht mehr in der Hand, es fliegt weg, irgendwohin ins Blaue. Da ist es mir doch lieber, mein kostbarstes Gut in Gottes Hände zurück zu legen, die sie mir vor 22 Jahren anvertraut haben. Je mehr ich Gott, dem Grund meines Lebens vertraue, desto leichter werde ich l-o-s-l-a-s-s-e-n. 

Eine Woche später feiert eine Freundin ihren Geburtstag unter dem Motto „Märchen“. Ich gehe als Königstochter, trage zum ersten Mal seit 24 Jahren mein Brautkleid. Null Romantik seitens Werner, er findet es albern, kein Kommentar, ob das Kleid schön ist, schön war, es mir immer noch steht. Dafür Lachsalven meiner Freundin, als sie schlappe fünfzehn Minuten lang versucht, meinen Reißverschluss zu schließen, unsägliche Kommentare ablassend, während ich aufhöre zu atmen. Auf dem Heimweg kommen wir an Annas Wohnung vorbei. Das Dachfenster ist geöffnet, meine Tochter zum Greifen nah und doch so fern...

Die zweite Abnabelung in unserem gemeinsamen Leben ist also vollzogen. Nun teilen wir keinen Alltag mehr miteinander, keine beiläufigen Begegnungen zwischen Tür und Angel. Ich bin gespannt, wie sich unsere Beziehung gestaltet, lerne, Gast bei meinem Kind zu sein, mich nicht zu bescheiden zurückzuhalten, mich aber auch nicht in ein Land zu drängen, das mir nicht zusteht.  

Ich liege in dem Metallbett unter der Pergola. Auf dem Schoß mein Laptop. Ich habe Annas Name in meiner Emailadressliste geändert. Puh, ist mir das nicht leicht gefallen. Dabei habe ich lediglich schriftlich nachvollzogen, was praktisch längst geschehen ist. Anna ist die Anna eines anderen. Da ruft sie an, um uns zu einem Glas Wein einzuladen … 

Loslassen …
Das sind Flügel
Die dich tragen –

Alles was du dazu brauchst
Ist ein
Grenzenloses Vertrauen
Zu dem
Der deine Fluglinie kennt
Und das Ziel

Eva-Maria Leiber


Quelle: Wenn die Seele auf Reisen geht, Eschbach, 2008 S. 28