Fromme Hausfrau - Zeit für mich - Schreibwerkstatt - Erzählungen & Kurztexte - Späte Einsicht oder Das gestohlene Lutscherglück 



Es passierte in meiner Grundschulzeit. Eines späten Winternachmittages, es war schon dunkel, ging ich wie jede Woche einmal zu unserem Kantorenehepaar um Klavierunterricht zu nehmen. Doch dieses Mal hatte ich 50 Pfennige bei mir. Ich hatte sie einfach aus der Geldbörse meiner Oma genommen. Dieses Geldstück hielt ich ganz fest in meiner kleinen Hand, es durfte nicht verloren gehen. Dafür würde ich mir vor der Klavierstunde einen braunen leckeren Schokolutscher holen. Voll Freude betrat ich den Bäckerladen und erstand den Lutscher. Natürlich musste ich von diesem schönen Stück gleich probieren. Ich leckte ein paarmal daran, dann musste ich mich beeilen.
Doch wohin nur mit dem Lutscher? Das Papier hatte ich nicht mehr. Ich ging in Richtung Pfarrhaus. Der Schnee glitzerte überall. Durch die Fernster drang Licht nach außen und man sah jede Spur und jeden Weg sehr genau. Mir kam eine Idee. Der Lutscher musste im Schnee auf mich warten. Ich steckte ihn hinein, merkte mir die Stelle sehr genau und ging zum Unterricht. Nach der Klavierstunde hoffte ich die Stelle wiederzufinden. Ich suchte und fand meinen Lutscher tatsächlich ganz schnell. Hm, wie er mir schmeckte, dieser Schoko-Eis-Lutscher! Mit Bedacht schleckte ich, bis er alle war und ging langsam, den Geschmack noch im Mund und mit klopfenden Herzen, nach Hause.
Ein paar Tage später fragte mich meine Oma, was ich denn beim Bäcker gewollt hätte. Die Bäckersfrau musste ihr erzählt haben, dass ich im Laden gewesen war. Taschengeld besaß ich zu dieser Zeit noch nicht und auch etwas einkaufen sollte ich an jenem Tage auch nicht. So log ich meine arme, immer um mich besorgte Oma an, ich hätte das Geld gefunden und mir etwas Kleines gekauft. Sie sagte nichts mehr dazu. Und auch ich vergaß es bald, obwohl ich wusste, dass ich etwas Unrechtes getan hatte.
Zwei Winter später verstarb sie. Leider konnte ich ihr die Wahrheit nie mehr erzählen, denn ich dachte erst vor ein paar Jahren an diese Sache zurück, als Oma ihren 100. Geburtstag gehabt hätte.

Vio Popielas