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Das Kind saß verschreckt in der dunklen Ecke.
Der merkwürdige Mensch im Armlehnstuhl machte ihm Angst. Er hatte einen großen Kopf und sein Gesicht war talgig weiß. Sein Körper war dick und seine Arme wirkten wie leblose Würste. Er hatte die breiten Füße nach innen verdreht.
Der Hosenbund reichte bis unter die Achseln, die Hosenträger schnitten in die fleischigen Schultern. Das Hemd, das er trug, war mit Flicken besetzt und auch die Hose hatte reichlich davon. Grau umfing ihn die dicke Strickjacke, Schafwolle!
Der Mund war geöffnet und die dicke Unterlippe hing ein wenig nach unten. Speichel troff langsam heraus. Lange Fäden. Das Kind ekelte sich.
Im Zimmer war es kalt und klamm. Die gute Stube in dem kleinen Bauernhaus wurde nur selten geheizt. Und jetzt im Spätsommer sowieso nicht.
Durch die vor den kleinen Fenstern stehenden hohen Bäume mit den breiten Kronen war ein gründliches Licht im Raum. Die lange Tafel in der Mitte des Zimmers war mit einem weißen Damasttischtuch bedeckt. Das Heilige Abendmahl. Mit einer feinen Stickerei hatte einst die Großmutter an langen Winterabenden, wenn die Stallarbeit getan war, den kostbaren Stoff verziert. Die groben Hände hatten kaum ihren Dienst getan.
Und nun lag die alte Frau nebenan im Sarg. Totenfeier.
Dem Kind war immer noch zum Fürchten. Langsam erhob es sich und lief zaghaft an dem eigenartigen Menschen vorbei. Erst setzte es seine Schritte langsam, dann immer schneller.
Der Bauchschmerz ließ an der Tür nach.
Im Flur war es nicht heller als im großen Zimmer. Hier roch man schon das gute Mittagessen, das Totenmahl, das es bald geben würde.
Fliegen umsurrten die Lampe an der Decke. Das Licht hatte nicht die Kraft, Helle in den Raum zu bringen. Mit kalten Händen fasste das Mädchen die Türklinke und trat ins Freie.
Der Hof war belagert von aufgeregten Hühnern. Ihr kam es vor, als kämen sie alle auf sie zugerannt. Besonders der Hahn startete ein wildes Krakeelen.
Abermals saß ihr die Angst im Nacken. Sie ballte die kleinen Hände fest zu Fäusten und straffte die Schultern. Reckte auch den schönen Kopf mit dem dunklen, langen Haar nach oben und schaute in die Sonne. Mutig schritt sie über den Hof. Von Steinplatte zu Steinplatte.
In den Ritzen der Platten wucherte das Gras. Keiner hatte Zeit gehabt, es zu entfernen.
Die Großmutter konnte nicht mehr anordnen.
Froh, den heimtückischen Hühnern entkommen zu sein, lief sie durchs Tor in die Wiese hinaus. Aber nein, das durfte sie nicht. Sie sollte doch eigentlich im Zimmer sitzen und auf den Mann aufpassen. Niemand hatte ihr gesagt, wer der Mann war und was mit ihm los war.
So war man doch nicht. Nicht so.
Zögernd hielt sie inne, drehte vorsichtig ihren Körper dem Hof zu. Das Hühnervolk war verschwunden. Sie atmete auf. Langsam ging sie zurück und schaute sich um. Eine Tür stand im hinteren Teil des Nebengebäudes offen.
Schwarzes Tuch hing daran. Und Grünzeug war ausgestreut. Sie ging darauf zu. Und sie ging hinein.
Der merkwürdige Geruch störte sie nicht. Auch nicht, dass hier überall große Kerzen brannten. Nein. Es störte sie, dass hier niemand war. Es wirkte, als hätte man den Raum fluchtartig verlassen. Nur der Schlafende da, der lag ganz allein und so eigenartig.
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Das bohrende Tier im Leib machte sich bemerkbar. Aber die Neugier war doch stärker als das Unbehagen.
Im Näherkommen wirkte das Bett des Schlafenden bedrohlich. Es war ein eigenartiges Bett. So gar nicht bequem, so gar nicht gemütlich. Daheim rollte sich das Mädchen immer in die Ecke ihres Bettes, an das kühle blaue Holz. Dort kam die Angst nicht hin.
Ihre Beine liefen von ganz allein. Dann stand sie vor dem Lager, das ihr bis zur Brust reichte.
Kalt lief der Schauer über ihren Rücken.
Großmutter. Da kam es ihr wieder in den Sinn, was erzählt wurde. Dass Großmutter tot sei.
Gestorben. Das Mädchen hatte nicht gewusst, was das war, tot sein.
Die Großmutter hatte die Augen geschlossen. Das Gesicht war fahl, eingefallen. Die Augenbrauen traten buschig hervor. Das Tier im Leib des Kindes stach heftig.
Nur der Mund der Toten hatte seine Weichheit noch nicht verloren. Das gab dem Kind die Wärme zurück, die es glaubte, verloren zu haben.
Tot? Tot sein war doch schlafen. Man hatte sie belogen. Aber die Hände der Großmutter waren kalt. Und das Haar war so anders gekämmt. Die Großmutter schlief ohne Atem.
Das Mädchen band das Tuch von ihrem Hals und legte es auf die kalten Hände der alten Frau. Wärme.
Nein, wie sonst war hier nichts. Niemand ging im Kleid schlafen. Erst recht nicht die Großmutter. Sie musste jemand fragen. Da hörte sie die Stimme über den Hof schallen, die zum Essen rief. Ein anderes Tier stach sie in den Leib. Und das Mädchen beeilte sich, dem Ruf Folge zu leisten.
Schelte! Sie war dorthin gegangen, wohin sie nicht hatte gehen sollten.
Nun saß sie am Ende der langen, weiß gedeckten Tafel. Dem Kind fiel auf, dass die Sonne es heimlich in den Goldrändern der Teller grüßte. Strahlen, die schön waren und Wärme verströmten.
Es dampften Kartoffeln auf seinem Teller. Und gelbes Gemüse und auch grünes. Grünes mochte sie nicht. Aber das Kind hatte Angst, es zu sagen. Eigentlich müsste es doch die Mutter wissen. Aber die Mutter hatte heute keine Augen für das Mädchen. Heute hatte die Mutter geschäftig hin und her zu gehen und die vielen fremden Leute zu bewirten.
Soße, braun und flüssig, würzig riechend, gab dem Kind Hoffnung. Es würde schmecken. Es nahm den großen, schweren silbernen Löffel und begann zu essen.
Ein Schlag auf die kleine Hand ließ sie aufschrecken und den Löffel fallen. Erschrocken sah das Mädchen auf die erhobene Hand der Mutter. Augen, die mahnten. Eine Zurechtweisung, die das Kind nicht verstand. Ratlosigkeit.
Es hob ihren Kopf und sah gebeugte Häupter, Scheitel. Gefaltete Hände: alte Hände ineinander geschlungen, junge Hände fest zusammen gepresst. Hörte Stimmen, Gemurmel. Dann deutlich: Amen.
Nun kannst du beginnen, sagte die Mutter. Aber jetzt war der Hunger geflohen und das Essen wurde im Mund zum Übel. Die Übelkeit blieb noch.
Im Hof standen viele Frauen und auch Gruppen von finster schauenden Männern hatten sich gebildet. Das kleine Mädchen stand an der Hauswand gelehnt und warme Sonnenstrahlen tasteten sich über das runde Gesicht.
Die Mutter hatte den kranken Mann an ihre Seite gestellt. Er stand da und starrte in die Runde der wartenden Menschen. Dass der Mann krank war, hatte ihr die Mutter zugeflüstert.
Die Mutter hatte auch gesagt, dass er nicht spielen konnte und nicht sprechen. Das Mädchen dachte, dass es sicher schlimm sei, den Ball nicht fangen zu können. Sie hatte daheim einen gelben Ball und ein buntes Springseil und einen Kreisel.
Die Großmutter war nicht krank gewesen. Trotzdem spielte die Großmutter nun nicht mehr mit ihr. Das war viel schlimmer.
Das Gemurmel der Menschen verebbte plötzlich und eine drohende Stille folgte. Die Köpfe der Leute drehten sich zur Einfahrt des Hofes. Mit Getöse kam ein schwarzer Wagen, gezogen von zwei behäbigen braunen Pferden mit Silberzeug ausgeputzt, in den Hof gefahren.
Das Kind konnte nichts mehr sehen. Es war nach abseits gedrängt worden. Es hörte nur angestrengtes Keuchen und das schwere Schlurfen der Füße. Nach langen Minuten setzte sich der Wagen in Bewegung. Dahinter liefen nun die schwarzen Menschen.
Die Mutter hatte die Hand des Kindes genommen und führte es neben sich her.
Schweigen. Gemurmel. Glockengeläut.
Ein lautes Poltern kroch in die Ohren des Mädchens. Sie sah und wusste nun, das galt der Großmutter. Erde wurde geworfen. Auch Blumen. Alles auf die Großmutter. Es würde sie erdrücken! Wieder zwickten die Schmerzen das Kind. Es hatte doch die Großmutter lieb!
Es wollte nicht, dass die alte Frau im Dunkel lag und alle Erde auf sie nieder fiel. Das Mädchen riss an der Hand der Mutter. Die Zurechtweisung der Mutter klang hart an ihrem Ohr. Tief holte das Mädchen Luft. Der Atem strömte in ihre Lungen und erlöste sie ein wenig von dem Druck, der auf ihrer Brust saß.
Es lagen auch Blumen in der Tiefe. Schöne Farben.
Der kranke Mann warf eine lange Rose hinab. Tränen liefen über sein Gesicht und sein Rücken bebte von unterdrücktem Schluchzen.
Das Kind ließ die Hand der Mutter los und lief an den Rand des Grabes. Ganz nah. Es traute sich. In der Tiefe war das Holz des Sarges nicht mehr zu sehen. Die Blumen umhüllten ihn weich. Da kam dem Mädchen in den Sinn, dass die Großmutter Gefallen an der Blütenpracht haben könnte. Langsam bückte sich die Kleine nach dem Korb neben dem Erdloch. Sie suchte eine lange weiße Blume.
Von dem kleinen Kuss ihres Mundes löste sich ein zartes Blatt und schwebte leicht hinab. Die Blüte legte sich in ganzer Länge darüber. Ein Adieu von der Enkelin.
Das Kind sah auf und sah direkt in die Augen des merkwürdigen Menschen. Der Mensch lächelte. Da stahl sich langsam ein Verstehen in die Blicke der beiden Unmündigen.
Verbundenheit. Gefunden in der Liebe und im Abschied um die Großmutter.
Der Mann nahm das Kind bei der Hand und gemeinsam verließen sie den Friedhof.

Gisa Harnack