Zwanzig Jahre im Dienst, aber so was ist mir noch nicht passiert. Da steigt ein Mann in mein Taxi, nicht älter als ich, fünfundvierzig vielleicht, Aktentasche in der Hand, schicker Anzug. Kein einfacher Taxifahrer wie ich, nein, schon was Besseres. Der steigt bei mir ein und sagt mir eine Adresse. Das ist nichts Besonderes, aber – es ist meine eigene Adresse! Ich halte meinen Mund und fahre los, wie es jeder Taxifahrer macht, wenn man ihm eine Adresse sagt.
Was will der Mann bei mir? So ein Managertyp, was hat der in meinem Haus zu suchen? Es gibt nur ein Haus in der Blumenstraße 12, und das ist meins. Ich hab schwer dafür gearbeitet. Man will ja schließlich ein eigenes Heim für Frau und Kind. Wofür sollte man auch sonst arbeiten, wenn nicht für die Familie und ein gutes Leben? Ich bin nicht unzufrieden mit dem, was ich habe. Ich freu mich an den kleinen Dingen. Eine Frau, ein Kind, ein Haus, was soll das Leben noch mehr hergeben, denke ich.
Und jetzt fahre ich zu meinem Haus mit einem Mann im Auto, den ich nicht kenne. Nadelstreifen, und glatt rasiert, was will der in meinem Haus? „Sie, Sie haben die falsche Adresse“, will ich sagen, aber ich schweige. Ich bin nur der Taxifahrer. Meine Meinung ist nicht gefragt.
Da ist die Blumenstraße. Ich kenne sie genau. Weiter unten haben Annes Eltern schon gewohnt. Anne, das ist meine Frau. Eine hübsche Frau, auch nach 17 Jahren Ehe noch. Durch dick und dünn sind wir zusammen gegangen. Seit wir das Haus abbezahlt haben, geht es uns gut. Wir haben ein Kind. Wir sind zufrieden.
Der Mann zahlt den Fahrpreis, keinen Pfennig mehr. Lässt mich nach einem Zehnpfennigstück suchen. Geizkragen!
Ich sehe dem Mann nach und fahre nicht weg. Ich warte. Vielleicht wird er mich gleich wieder brauchen, wenn er merkt, dass die Adresse nicht stimmt. Er klingelt vorne am Tor. Wir schließen es immer ab. Man muss vorsichtig sein heutzutage. Es gibt so viele Gauner und Einbrecher, skrupellose Menschen.
Da kommt meine Frau heraus. Das Kind ist in der Schule. Gut sieht sie aus, die Anne. Ein schönes Kleid trägt sie. Ist es das gleiche wie heute Morgen?
Sie winkt dem Mann zu und läuft lachend zu ihm hin. Woher kennt sie ihn? Woher? Sie schließt das Tor auf und fällt dem Fremden in den Arm. Sie küssen sich auf offener Straße – der Nadelstreifengeizhals und meine Frau. 17 Jahre verheiratet, ein Kind, ein Haus, eine gute Ehe. Und da kommt ein Mann, und ich fahre ihn selbst zu meinem Haus. Wenn ich sie zur Rede stelle, wird sie mir erzählen, er sei ihr totgeglaubter Bruder. Sie gehen ins Haus, und die Tür fällt ins Schloss. Das Tor steht offen.
Wenn sie mir heute Abend von allein sagt, dass ihr verschollener Bruder gekommen ist, will ich ihr glauben.
Ich fahre ganz automatisch wie jeden Tag. Dieser Mann und meine Frau – 17 Jahre Ehe. Hab ich ihr nicht alles gegeben, was eine Frau sich wünscht – ein Kind, ein Haus, ein sicheres Einkommen? Einen Nadelstreifenanzug trage ich nicht, ich bin ein einfacher Mann. Ich arbeite Tag für Tag, um die Familie zu ernähren.
Ich fahre nach Hause. Das Tor ist geschlossen. Einbrecher sind nicht die einzigen skrupellosen Menschen. Man muss auf der Hut sein. Nichts ist sicher.
Da steht meine Frau in der Küche. Sie kocht für mich. Wie jeden Abend. Sie kocht immer, wenn ich nach Hause komme. Es ist gut zu wissen, dass man erwartet wird. Sie sieht aus wie immer, meine Frau. Aber ich habe es selbst gesehen, mit eigenen Augen. Ich habe ihn selbst hergefahren zu meinem Haus. 17 Jahre Ehe.
Sie schweigt. Sie erzählt nichts von ihrem totgeglaubten Bruder.
Morgen reiche ich die Scheidung ein.
eingesandt von Ulrike Chuchra