Es war einmal ein Prinz, der konnte durch seine Fenster in die ganze Welt sehen. Eines Tages sah er in einem fernen Winkel seines Reiches eine junge Frau, die bitterlich weinte. Ihr Anblick ging ihm durchs Herz, und er machte sich auf, um die Frau zu suchen. Getrieben von seiner Liebe reiste er in stiller Verkleidung von Ort zu Ort.
Da kam er in eine Gegend, in der ein böser Drache sein Unwesen trieb. Niemand konnte ihn besiegen, und in jeder Johannisnacht mussten die Menschen ihm ein Opfer aus ihrer Mitte bringen, damit er ihre Häuser und Felder verschonte. Hier fand der Prinz die Frau, die er durch sein Fenster gesehen hatte. Sie ging mit gesenkten Augen und hängenden Schultern, ihr Haar war ungekämmt und ihre Kleidung grau. Der Prinz wollte sie umwerben und ihr Herz gewinnen. Doch sie sagte: „Meinen Eltern habe ich nie viel bedeutet, und kein Mann hat je um meine Hand angehalten. Ich bin zu nichts gut, als den hungrigen Zorn des Drachen ein weiteres Jahr zu stillen. Das ist meine Bestimmung, und heute Nacht muss sie sich erfüllen.“
Sie wandte sich ab und ging müden Schrittes davon. Mit verzweifeltem Widerspruch auf den Lippen wollte der Prinz ihr folgen, aber die Männer der Stadt hielten ihn fest. „Willst du, dass der Drache die ganze Gegend verwüstet?“, hielten sie ihm aufgebracht entgegen. Sie warfen ihn vor die Tore der Stadt und ließen ihn nicht mehr hinein.
Der Prinz wartete in großer Unruhe, bis die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren. Da wurde die Frau von einer kleinen Männerschar aus der Stadt hinausgeleitet und zur Höhle des Drachen gebracht. Im Schutz der Dunkelheit schlich der Prinz ihnen nach.
Die Männer banden die Frau vor dem Eingang der Höhle an einen Baum fest und zogen sich in die Stadt zurück. Als der Prinz sich leise näherte, sah er die Tränen der Frau im Mondlicht schimmern. Behutsam löste er die Knoten und nahm die Frau in seine Arme. Sie hob die Augen zu ihm auf und fasste neuen Mut. Da ließ sich aus der Höhle schnaubend der Drache vernehmen. „Ich habe dich so lange gesucht“, sagte der Prinz und zog hastig seinen Ring vom Finger. „Nimm das hier als Zeichen meiner Liebe – du bist mir unendlich wertvoll.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, und bevor sie etwas erwidern konnte, war er in der Höhle verschwunden.
Starr vor Schrecken hörte sie das Brüllen des Drachen und den Schrei des Prinzen, ein Knirschen und ein Stöhnen. Dann war es still.
Am nächsten Morgen kamen die Männer aus der Stadt zur Höhle, um zu sehen, ob der Drache ihr Opfer angenommen hatte. Wo sie die Frau angebunden hatten, stand eine fremde Dame, so schön und so königlich, dass sie sich unwillkürlich verneigten. Ihre Kleider waren schlicht, aber sie trug sie mit großer Würde. In ihren Augen spiegelten sich unergründliche Tiefen, und ihre Stimme hatte einen warmen, vollen Klang, als sie sagte: „Der Drache ist an der Liebe erstickt. Geht hinein und seht: Er ist tot.“
Verwundert wagten sich die Männer an den Rand der Höhle vor und warfen einen Blick hinein. Seite an Seite lagen der Prinz und der Drache tot auf dem Boden. Sie wollten die fremde Dame dazu befragen, aber sie war verschwunden und wurde niemals wieder gesehen.
eingesandt von Ulrike Chuchra