Während Yvonne Berge von Kartonage zusammenschneidet, die Andrea treu nach Obergrombach in die häusliche Tonne schleppt, um Geld zu sparen, drucke ich kilometerweise Etiketten für die Millionen Weihnachtskarten und denke für mich: „Diesmal habe ich vielleicht bei der Aus-dem-Bauch-heraus-Bestellung des Guten zuviel getan, das könnte reichen für dreimal Weihnachten. Es hängen auch so unwahrscheinlich viele Kalender herum ...“
Samstags kommen jetzt ganze Familien und füllen jeden Winkel des Ladens mit Gespräch, Gelächter und Fragen. Es fallen ihnen immer noch neue Fragen ein, die ich noch nie gehört habe. „Ich suche ein Liederbuch, in dem das Kinderlied aus meiner Kommunionszeit ‚Gottes Liebe ist wie die Sonne’ drin ist.“ oder „Ich brauche einen Adventskalender, der klar evangelikal ist und viel Inhalt rübertransportiert, der, den ich letztes Jahr hier gekauft habe, war mir zu schmal.“ Oder „Ich mache mit Frauen zusammen eine Bibelarbeit zum Thema ‚Der Mensch und seine Wurzeln’ und suche eine Postkarte dazu, die ich fotokopieren kann – sie sollte nicht zu teuer sein“ und „Mein Patenkind heißt Jesaja und ich suche ein Bilderbuch über diese biblische Geschichte“ und „Ich möchte einen Büchertisch im Kindergarten anbieten über christliche Kinderliteratur, können Sie mir da zur Ansicht einiges mitgeben?“ und einer will die Klavierpartitur von „Touch the sky“, und die nächste will nur mal wissen, wie viel das Paulusoratorium kostet. Am Telefon warten Vertreter, Hausmeister, eigene Kinder, Ehemänner, Kunden, Verlage ...
„Der Einzelhandel ist der Staubsauger der Nation“ haben zwei von uns in Gießen erfahren, als sie auf einer Fortbildung zur Euroumstellung dort nächtigten, nicht zum ersten Mal.
Der Euro macht uns Flügel – Tausende unserer Karten haben wir bereits zusätzlich mit diesem neuen Zeichen „ausgezeichnet“. Ebenso CD’s, Postkartenbücher, Gebetswürfel, Kulis, Briefpapier, Tassen, Kerzen ... An die Bücher werden wir uns als Nächstes machen. So oft wird man ja kaum die Gelegenheit haben, eine Währungsreform zu erleben und also sind wir sehr geehrt, daran so hautnah teilnehmen zu dürfen. Gespannt ist gar kein Ausdruck.
Während sich einerseits immer mehr herauskristallisiert, dass der Buchladen stark angenommen wird durch kirchliche und gemeindliche Mitarbeiter, die Unterstützung für ihre Arbeit suchen, ist eine zweite große Aufgabe die Begegnung mit Menschen mit Lebensproblemen geworden.
Da steht ein älterer Mann vor mir, der mich drängt, ihm ein Buch zu verkaufen, „worin steht, dass das alles stimmt, Sie wissen schon“. Ich bezweifle, ob ich genau weiß, was er meint. Seine Frau sieht mich mit flehenden Augen an. Ich bin betriebsblind und suche bei den christlichen Sachbüchern nach einem Buch, das beweist, dass das alles stimmt. Er nimmt sie nicht einmal in die Hand. Sieht mich weiter an, meint mit belegter Stimme: „Ich brauche ein Buch, das beweist, dass das mit Gott wirklich wahr ist.“ Ich schwitze, stehe auf dem Schlauch, stehe in der Ecke der evangelistischen Bücher, du meine Güte, was könnte ich ihm denn anbieten? Um Zeit zu gewinnen und sein Anliegen besser zu verstehen, frage ich: „Wem wollen Sie es denn schenken?“ – „Nein, nicht verschenken, das ist für mich! Ich will wissen, ob das alles stimmt. Ich weiß viel, war selber Ministrant, aber ich kenne Gott nicht.“ Intuitiv frage ich: „Haben Sie etwas Schlimmes erlebt?“ Da bricht es aus den beiden heraus: „Ja, unser Sohn hat sich letztes Jahr das Leben genommen.“ Ich bin erschüttert, habe das Gefühl, nutzlos zu sein und eine wertvolle Chance für Jesus verstreichen zu lassen. Ich habe keine Ahnung, was ich diesem suchenden fragenden Menschen sagen oder zu lesen anbieten kann, bete, dass Gott etwas sagen soll, höre aber nichts, da tritt plötzlich Rudi aufs Tapet, ein Kunde, liebenswürdiger Bruder einer leicht charismatischen Gemeinde aus der Umgebung. „Du brauchst Jesus!“, sagt er schlicht und warmherzig. Innerlich rolle ich mit den Augen. „Jesus kann dich heil machen“, sagt er weiter. Staunend sehe ich, wie sich der ältere Mann voller Sehnsucht Rudi zuwendet, Hoffnung auf dem Gesicht, und sagt: „Genau das brauche ich! Ich will heil werden!“ Und Rudi sagt: „Du musst einfach zu Jesus kommen, mich hat er auch geheilt, heute geht es mir gut. Alle haben mich im Stich gelassen, als meine Frau mich verlassen hat, heute habe ich Jesus und bin nie mehr allein. Der ist jeden Tag bei mir. Mit dem kannst du ganz einfach reden, der hört dich. Hast du mal Zeit? Ich hab Zeit für dich, du kannst zu mir kommen und ich erzähl dir von Jesus!“ Rudi gibt ihm „Jesus mein Schicksal“. Erleichtert wende ich mich einem anderen Kunden zu. Hinterher erzählt Rudi, dass er den Mann weitläufig kennt, dass er seinen Sohn immer missachtet und geprügelt hat, dass er Heilung braucht und dass ihm das wirklich nur Jesus bringen kann. Ich bin beschämt, dankbar, fasziniert, beschenkt.
Oft geschehen solche Begegnungen an Tagen, an denen ich die große Krise hatte auf dem Weg zum Buchladen. „Warum mache ich das alles, warum verlasse ich bloß wieder das sinkende Schiff (anstatt Hausaufgaben zu machen werden die Kinder streiten, fernsehen, am PC sitzen, meine Dateien aus Versehen löschen, nicht ihren Küchendienst machen, sondern das Haus verwahrlosen lassen), um christliche Kulis und fromme Karten zu sortieren?? Draußen ist das herrlichste Wetter oder es schüttet aus Kübeln und ich muss in diesen Laden radeln, um dänische Kerzen, Gebetswürfel und Briefpapier zu verkaufen. Und dann schickt Gott Heribert, der schon seit Jahren kommt und dessen Lebenslinie kontinuierlich nach unten verläuft. Arbeitslos, allein lebend, in Angst vor seinen türkischen Nachbarn, selbstmordgefährdet. Heribert trinkt Tee, redet über seine Verzweiflung und über Gott, liest Traktate, bittet darum, dass ich mit ihm bete, verspricht, morgen wieder vorbeizusehen. Wir alle kennen Heribert und beten für ihn. Dann erfahre ich, dass er sich in der Bruchsaler Psychiatrie gemeldet hat, obwohl er gar nicht in der Nähe wohnt, treffe ihn in unserem Gottesdienst, obwohl er kein Auto mehr hat – Bischofs haben ihn mitgebracht. Und Hoffnung wächst in mir und in Heribert.
Lange Zeit kam ein zehnjähriges Mädchen, die uns immer tieferen Einblick gab in ihr zerstörtes Familienleben – Vater gestorben, Mutter lebt mit dessen Bruder zusammen, Verdacht auf Schlimmeres. Wir hielten Kontakt mit Menschen aus der Gemeinde, in die sie mit ihrer Mutter geht, beteten für sie. Lange Zeit hat sie mich jeden Donnerstagmittag besucht. Heute kommt sie nicht mehr, aber ich denke oft an sie.
Ich habe Mittagsdienst. Es entstehen die ersten Löcher in den Karten- und Kalenderbeständen. Die Kunden kaufen wie verrückt, zuerst die klugen und weisen, dann die späten und hektischen, am Ende wird wieder alles weg sein. Wir haben dreifache Tagesumsätze, dreifache Paketlieferungen, dreifache Arbeit. Wir brauchen diese Umsätze, um das restliche Jahr über die Betriebskosten finanzieren zu können. Ich freue mich über jede Bibel, die wir verkaufen.
Ich bin müde, aber anschließend ist noch Teamsitzung. Thema: Planung der Adventssamstage, Umstellung auf Euro, Inventur. Andrea findet, dass ich privilegiert bin, weil ich nicht extra herfahren musste. Wie man doch alle Dinge von zwei Seiten betrachten kann. Ich weiß, was sie meint, aber nicht jedes Privileg fühlt sich wie ein solches an.
Neulich haben wir beim Sperrmüll vor einer renommierten Bruchsaler Buchhandlung etliche Bücher- und Kartenständer in sehr gutem Zustand entdeckt. Das war ein Fest!
Wir kommen immer besser mit dem PC und den diversen Verwaltungsaufgaben zurecht. Tasten uns an den Euro heran. Haben die Arbeit auf viele Schultern verteilt. Jutta organisiert die Musik, Yvonne macht den ganzen Uljö-Kram, Andrea die paar Bücher, ich kümmere mich um die Millionen Karten und Helga erledigt die (nur nicht bei ihr) so unbeliebte Buchführung.
Okay, in der Adventszeit bluten wieder unsere Familien. Aber was soll’s - für uns Christen ist ja das ganze Jahr über Weihnachten ...
eingesandt von Bianka