Liebe Schwestern (ich fühle mich immer mehr euch allen verschwistert und das tut mir grundgut!),
heute vor einer Woche war das Unglück in Amerika.
Manche von euch haben mir geschrieben, wie es ihnen damit geht. Das hat mir geholfen, meine Gefühle einzuordnen und es hat mich in meiner Hoffnung auf Jesus gestärkt.
Susanne Bosch hat angeregt, eine Rubrik in unserer Homepage einzurichten, in der ich Stimmen von euch sammeln kann. Das fand ich hilfreich und wir haben das nun getan.
In dieser Woche ist vieles relativ geworden. Wir laufen durch unseren Alltag, der nach wie vor derselbe ist und sehen vieles mit anderen Augen. Die Sorgen von letzter Woche sind nicht mehr unbedingt dieselben. Und doch haben die Kids Fieber und Schulangst und ihre Lieblingshose hat ein Loch und sie wollen diese coolen Turnschuhe für 150 DM - das Leben tut, als wäre nichts geschehen. Das hat etwas Schockierendes und macht mich orientierungslos. Diese Woche habe ich so viele "wichtige" Dinge vergessen, dass mein Soll für ein Jahr eigentlich erfüllt wäre.
Dass von einem Moment auf den anderen alles anders wird, ist nicht neu für mich, ich kenne das, seit Werner bei einem Arbeitsunfall mit 24 ein Auge verlor, seit Jan zur Welt kam und sein Leben jahrelang immer wieder an einem seidenen Faden hing, seit meine Freundin innerhalb von vier Jahren zwei Brüder verloren hat.
Aber jetzt hat es ein anderes Ausmaß genommen.
In meinem tiefsten Innern war ich der Überzeugung, dass ich und meine Kinder nie Krieg erleben werden. Dieses Netz mit doppeltem Boden ist mir entzogen. Glaube wird neu geprüft. Ich habe das Gefühl, jetzt wird es Ernst.
Ich frage mich, was das neue Jahrtausend bringt. Ob jetzt alles umgekehrt wird. Ich bin dankbar für die fast vierzig Jahre Friede, die ich erleben durfte und sorge mich gleichzeitig um meine Kinder.
Ulrich Holl, ein christlicher Buchhändler aus Mannheim, der uns in unserem Buchladen beratend zur Seite steht, hat, als ich ihn fragte, wie ich das einordnen soll, geschrieben, ich soll Matthäus 24 lesen und nicht erschrecken. Ich habe gelesen und bin erschrocken.
"Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, achtet darauf, aber erschreckt nicht! Das muss geschehen, doch es bedeutet noch nicht das Ende. Die Völker und die Machtblöcke der Erde werden gegeneinander Kriege führen. In vielen Teilen der Welt wird es Hungersnöte und Erdbeben geben. Doch das ist erst der Anfang vom Ende; so wie die ersten Wehen einer Frau, die ein Kind zur Welt bringt."
Ich habe drei zur Welt gebracht und weiß, dass sich die ersten Wehen alarmierend anfühlen, aber völlig harmlos sind gegen das, was danach kommt.
Ich empfinde dieselbe Betroffenheit wie viele Menschen zur Zeit. Aber ich glaube, es geht uns immer noch um uns. Ist es nicht vor allem die Angst vor unserer eigenen Verletzbarkeit? Warum sonst macht sich nicht täglich dieselbe lähmende Betroffenheit in uns breit angesichts des realen Hungertods von einer viel größeren Zahl an Menschen jeden Tag? Ist dieses Entsetzen, das uns befallen hat, nicht das Entsetzen: Jetzt geht es an uns, an uns zivilisierte Menschen mit der scheinbaren Unverwundbarkeit Siegfrieds. Unsere Technik- und Heileweltgläubigkeit hat einen Sprung bekommen.
Warum nicht jeden Tag Schweigeminuten für die 40000 Menschen, die wieder verhungert sind seit unserem gestrigen Frühstück? Ich habe mich gut an diese Statistik gewöhnt, wenn ich ehrlich bin. Warum sonst gebe ich nicht mein letztes Hemd aus Betroffenheit für diese Menschen?
Rau hat in einem Gedenkgottesdienst gesagt: "Friede ist eine Frucht der Gerechtigkeit." Gestern morgen habe ich in meiner Bibel dort weiter gelesen, wo ich gerade stecke: Jesaja 56. Da stand: "Haltet euch an meine Ordnungen, und sorgt für Gerechtigkeit!" Wie kann ich das tun? Was will Gott konkret von mir? Ich bin überzeugt, dass hier ein Schlüssel steckt.
Vor 13 Jahren habe ich aus einer Predigt einen Satz mitgenommen, der immer wieder in mir auftaucht. Der Prediger hat sich überlegt, was wohl Gottes Beweggründe sein können, Menschen wie uns, in materiell bevorzugten Teilen der Erde, so einen unverdienten Reichtum zu schenken. Er kam nur zu dem einen Schluss: Damit wir unsere Verantwortung wahrnehmen und teilen lernen. Ich empfinde das als zunehmende Last und Schuldpotential. Meine Verstrickung im Materialismus und meine Unfähigkeit, einen Schritt zur Seite zu gehen und einschneidend zu teilen und die Ungerechtigkeit, die ich dadurch vergrößere.
Sorgt für Gerechtigkeit ...
Ich weiß nicht, wie sehr wir uns schuldig machen mit all unserem Wissen und darum unserer Verantwortung. Wie lange schon leidet Gott unter unserer Wohlstandsignoranz, wie gehen wir um mit unseren Talenten?
Während Werner jeden Abend stundenlang vor dem Fernseher sitzt, bin ich nicht mehr in der Lage, diese Bilder aufzunehmen. Noch immer steht das flüchtige Bild aus einer Dokumentarsendung über vergangene US-Kriege vor mir, wo irgendwelche (ich habe das Land vergessen) Menschen mit primitiven Mitteln einen gefesselten US-Soldaten mit verbundenen Augen quälen, der sich am Boden krümmt wie ein Wurm. Ich kann damit nicht umgehen. Ich frage mich, wie Gott in seiner Allwissenheit damit umgehen kann. Wie kann er das verkraften?
In mir machen sich Ohnmacht, Angst und Schuldgefühle breit. Wie geht es euch damit?
Herzlich, eure Bianka
An dieser Stelle wollte ich eigentlich abbrechen und hab den Newsletter auch schon an Ulrike geschickt. Aber dann ist mir noch ein Gedanke gekommen, den ich hinzufügen möchte.
Gestern Abend, als Werner mich von der Buchhandlung abholte, sah ich über dem alten Gefängnis, Sitz von Hunderten von Schwerverbrechern, einen gigantischen zweifachen Regenbogen, der am unteren Bereich ungewöhnlich klar strahlte vor dem Hintergrund eines tiefschwarzen Gewitterhimmels. Ich war ergriffen und dachte, dass Gott wahrscheinlich wirklich jedes Mal dahinter steckt, wenn so etwas geschieht. Dass er höchstpersönlich diesen farbenfrohen Bogen schlug über einem Gebäude Bruchsals, das Schuld und Versagen der Menschen symbolisiert. Das berührte mein Herz und erinnerte mich daran, dass Gott noch um jede Katastrophe wusste und als unveränderlicher Gott Anfang und Ende in seinen Händen hält. Gott hält ein Licht für uns bereit, das für uns verborgen im Tageslicht wohnt, mitten unter uns.
Zwei Tage vor diesem Unglück in Amerika hatte ich keinen guten Tag. Ich habe Ulrike davon geschrieben.
Sie antwortete:
Kennst du das Lied "Gott sieht unsre Tränen"? Mich spricht das Lied in meinen trüben Phasen sehr an:
"Gott sieht unsre Tränen, Gott fühlt unsern Schmerz,
Gott kennt unser Sehnen, weiß um unser Herz.
Er kann uns verstehen, wenn keiner uns versteht,
Trost und Liebe geben, wenn uns die Hoffnung fehlt.
Regen fällt und fällt, durchdringt die ganze Welt.
Seht, der Himmel weint, im Leid mit uns vereint.
Durch die Wolken dringt ein Sonnenstrahl und bringt
Hoffnung, die das Licht in Regenbogenfarben bricht."
Gerade stand ich in der Küche, kochte und hörte die Aufatmen-CD, als ein Lied in mein Bewusstsein drang und ich merkte, dass dieses Lied, das so gut zu meiner gegenwärtigen Stimmung passte, das Lied war, das Ulrike mir aufgeschrieben hat.
Ich schenke es euch zum Schluss. Lasst uns mit Gott rechnen. Lasst uns nicht resignieren, wir wissen doch, wie oft Gebete ihn umstimmen konnten und ihn eingreifen ließen in die Geschichte der Menschheit. In meine hat er das letzte Woche wieder getan.
Herzlich, eure Bianka